Natürlich hat sich Sprache immer weiter entwickelt. Das war aber jahrhundertelang eine immer feinere Ausdifferenzierung, keine Verflachung und Reduzierung, wie es heute geschieht. Und ja, ich stehe, was Sprachverwendung betrifft, auf der konservativen Seite.
Ist das so? Was meint wohl @Ambros_Langleb dazu?
Das kommt sehr darauf an, welches Sprachregister man meint. In standard- und fachsprachlichen Registern folgt die Sprache natürlich einem Bedürfnis nach semantischer Differenzierung mit entsprechender Differenzierung der Ausdrucksmittel. Da braucht man etwa nur die Sprache der sog. 12-Tafel-Gesetze (5. Jh. v.) mit ihren teils unbeholfenen Umschreibungen mit dem Codex Iustinianus vergleichen, dessen Terminologie, an die Einzelsprachen angepasst, noch heute Grundlage der europ. Rechtssprachen mit lateinischer Rechtstradition ist.
Im den meisten Fällen gilt aber, was ich im Proseminar historische Sprachwissenschaft gelernt habe:
1. Die Fehler von heute sind die Regeln von morgen, denn
2. am langen Ende setzt der Prolet sich immer durch.
Wenn Nr. 2 nicht gälte, würden man in der Romania noch heute Lateinisch und nicht vulgärlateinische Varianten wie Spanisch oder Französisch sprechen. Die Sprache folgt eben gewandelten Kommunikationsbedürfnissen, und wenn die Gruppe der Sprecher, die einen bestimmten Sprachstandard zur Norm erhoben hat, quantitativ gegenüber anderen Gruppen auf dem Rückzug ist, dann braucht es nur ein entscheidendes Ereignis, und der alte Sprachstandard ist perdu. Für das Lateinische war das der Untergang der gesamten Senatsaristokratie samit ihren Bibliotheken und ihrem Schulwesen im 6. Jh., der durch die exemplarisch barbarische (Rück-)eroberung Italiens durch die Byzantiner herbeigeführt wurde (wogegen die Goten die Lat. Hochsprache gepflegt haben!). Was das Deutsche betrifft, hat es ja lange gar keinen verbindlichen Sprachstandard entwickelt, weil als Amts- und Verkehrssprache das Lateinische zur verfügung stand, und auch später wurden Ansätze zu seiner Entwicklung bekanntlich durch das Französische unterminiert. So alt ist unsere Standardsprache also noch gar nicht und von einer unidirektionalen Entwicklung, wie
@Demian sie sich vorstellt, kann man eigentlich nicht sprechen.
Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied zwischen dem derzeit im Deutschen beobachtbaren Sprachwandel und dem in der Antike: Auch der schlimmste `Dialekt'-Sprecher war damals bemüht, sobald er schrieb, so `gut' wie möglich zu schreiben, d.h. der Standardsprache möglichst nahe zu kommen. Das kann man an vielen Beispiele zeigen, z.B. an dem durch den Untergang Pompejis bewahrten Archiv eines kleinen Getreidehändlers, der zwar keinen Kasus bei Präpositionen auseinanderhalten kann (vgl. unser "wegen"-Bsp. von oben), aber doch seine Verträge mit allerlei literarischen Brocken aufpeppt, die er aufgeschnappt hat. Das ist heute nicht mehr so, weil gerade in den neuen Medien die Grenze zwischen schriftlicher und mündlicher Kommunikation verwischt wird, und damit Äußerungsweisen in schriftlicher Kommunikation auftauchen, die man da vor 30 Jahren noch nicht erwartet hätte. Die Folge davon ist ein langsamer, aber stetiger Rückzug der schriftlichen Standardsprache auf Bereiche, wo sie unverzichtbar bleibt, wie die Rechts- und Geschäfssprache und natürlich die Literatur.
Das ist aber im Grunde nichts weiter als eine Rückkehr zur Ausgangssituation einer sich `literarisierenden' Sprache. Holzschnittartig gesagt: Am Anfang steht eine Diglossiesituation zwischen mündlicher und (nur von wenigen beherrschter) schriftlicher Kommunikation; mit Verbreitung des Lesens greift die schriftliche (Prestige)sprache in den Bereich der mündlichen über und umgekehrt wirken mit der Zunahme der Literarisierung von früheren (fast) Nur-Umgangssprachensprechern (solche gab es in meiner Kindheit im Proletariermilieu des Nürnberger Ostens noch haufenweise) deren Sprachgewohnheiten wieder auf die Schriftsprache zurück. Letztlich entsteht damit einer neuer, wenn auch weniger rigider Sprachstandard.
Anfällig für den Einfluss der Umgangssprache sind besonders Regeln, die funktional nicht mehr motiviert sind. So das o.g. "wegen mit Genitiv". Während bei Präpositionen mit lokaler Bedeutung die Kasusopposition semantisch relevant sein kann (er geht in das Haus : er ist im Haus), verliert der Kasus seine Relevanz in dem Maße, in dem die Präposition abstrakt wird. Die separative Bedeutung von "wegen" ist total verschwunden; also ist es funktional unerheblich, mit welchem Kasus sie verbunden wird. Ich als Sprecher einer süddeutschen Varität "hänge", im Gegensatz zu
@Demian, am Dativ, und nur weil Konrad Duden als Rheinpreußischer Schulmeister den Genitiv besser fand, werd ich nicht davon ablassen, jedenfalls nicht beim Reden.
Also: einen Sprachstandard zu haben und zu pflegen, kann kommunikativ nützlich und ästhetisch befriedigend sein, aber man kann ihn nicht konservieren, weil Sprache ein historischer Gegenstand ist. Wer "ein" Virus im Neutrum hat, weiß, welches Genus es im Lateinischen hatte, wer "einen" Virus im Masklinum hat, zeigt, dass er zur analogen Anwendung von Regeln ("-us ist maskulin") fähig ist. Warten wir mal, wer eher gesund ist, und dem geben wir dann recht. ;)