Du hast die Bögen der Busoni-Ausgabe für die 1. Invention angepriesen.
...lieber
@Mindenblues ich fürchte, wir beide haben eine sehr unterschiedliche Wahrnehmung von Wortbedeutungen, obwohl wir doch scheinbar dieselbe Sprache verwenden. Ich habe was "angepriesen"? Das glaube ich nicht, weshalb ich nachschaue:
Achtung:
die (auch doppelten) Bögen von Busoni zeigen die motivischen Zusammenhänge, sie sind nicht als einzig wahre Artikulationsvorgabe gemeint, sondern als erste und einfachste Möglichkeit für Lerrnende (!!) - dasselbe gilt auch für Fingersätze, Tempovorgabe und ausnotierte Verzierungen
==> für uns hier ist interessant, dass diese Edition für jeden SICHTBAR macht, wie hier die Motive stets auftaktig in das erste und dritte Viertel als Ziel hineinlaufen, und das auch über Taktstriche hinweg!!!)
wenn das "anpreisen" sein soll, dann muss ich wohl die Bedeutung dieses Verbs neu lernen...
Also: die
instruktive Ausgabe wendet sich an (relative) Anfänger, an Lernende*) (sie wendet sich nicht an einen großen starken Mindenblues, der vorab alles (besser) weiß) und bietet mit ihrer möglichst leicht verständlichen Notation einen (pianistisch!)
möglichst einfachen und
übersichtlichen Einstieg zum verstehen des Notentexts und zu einer ersten (schlichten), nicht falschen Spielweise auf dem Klavier (ob das gelungen ist oder nicht, steht hier gar nicht zur Debatte) Denn Anfänger erkennen im zitierten Beispiel (Takt 3 und 4 der ersten Invention) nicht auf den ersten Blick so wie sicher du, dass dort die 1. Stimme als absteigende Sequenz vier Spiegelungen des Themas als einen Zusammenhang bietet**), während die 2.Stimme zweimal die Augmentation des Themenkopfes bringt und beim drittenmal erweitert (und zwar in einen langen Ton auf der eigentlich schwach betonten vierten Zählzeit... oh, wie verräterisch...) - na ja, Anfänger erkennen auch nicht auf den ersten Blick, dass diese Invention sich zu mehr als 90% ihres Tonmaterials aus dem ersten Motiv zusammensetzt, was du sicher sofort erkennst.
klar, ein Anfänger könnte auch eine karge Urtextedition zum üben verwenden und müsste sich dann von seinem/r/* Lehrer/in/* das alles erklären oder reinschreiben lassen.
Was du aber offenbar NICHT erkennst oder (an)erkennen willst, ist die sichtbare Tatsache, dass Busoni die motivische Arbeit dieser Invention absolut korrekt und ohne jeden Fehler klarmacht/darstellt. Diese muss erkannt, muss wahrgenommen sein, um dieses Stück ordentlich darbieten zu können.
Im Zusammenhang mit der (oberflächlich) gestellten Frage des Fadens geht es aber um etwas ganz anderes, und das ließ sich an der Busoni-Notation SICHTBAR machen, weshalb ich das nochmal zitiere:
==> für uns hier ist interessant, dass diese Edition für jeden SICHTBAR macht, wie hier die Motive stets auftaktig in das erste und dritte Viertel als Ziel hineinlaufen, und das auch über Taktstriche hinweg!!!)
Und hier muss ich mir an die eigene Nase fassen, denn ich hatte das zu verkürzt formuliert, weil es mir nur darum ging, zu demonstrieren, wie die Motive/Themen permanent über die Taktschwerpunkte und Taktstriche hinweg konstruiert sind (und dass es wenig erbaulich wäre, sie wie mit Schluckauf zu zerstückeln) Ich hätte präziser statt "Ziel" den Begriff "Phrasenende" verwenden sollen.
Deswegen hole jetzt was nach:
Tatsächlich wird in dieser Invention nur dreimal (!) die "Eins" als eindeutiger Schwerpunkt konstituiert, und zwar an den drei Stellen, an welchen sich das Motiv zu einer jeweils typischen Schlussfloskel entscheidet (wobei dieser Schlussfloskel die eindeutige Kadenzierung D-T bzw D-t unterlegt ist) zum ersten Mal der Scheinschluß in G-Dur, zum zweiten mal die Wendung nach a-Moll und zum dritten Mal die Schlusskadenz. Und Halleluja: an diesen drei Stellen ist die "Regel"
absetzen vor einem Taktschwerpunkt regelrecht einkomponiert (man kann da gar nicht anders spielen) - - - bevor aber jetzt "Hurra, na also, die Regel gilt" jubiliert wird: das sind nur drei kadenzierende Stellen, und das ist nicht viel: denn alles andere, d.h. jedesmal das auftaktige Motiv, läuft in unbetonte "Schwerpunkte". Das Phrasenende befindet sich stets auf dem 1. oder 3. Viertel des Vierertaktes, der melodische Bau aber legt rhythmische Schwerpunkte auf dem jeweils 2. und 4. Viertel nahe! Bach hat hier eine sehr hübsche rhythmische Phasenverschiebung komponiert, und aus dieser resultiert die Lebendigkeit (je nach Artikulation und Tempo auch der tänzerische Charakter) dieser wunderbaren Miniatur***)
Nehmen wir das auftaktige Motiv:
(1) ...................................... (piano - crescendo--------------------------------forte/Akzent)
(2) ...................................... (piano - cresc.----------------dim.-------------------unbetont)
der Bau des Motivs legt die 2. Variante als melodische Gestaltung nahe, die 1. klingt unbeholfen (ja, ich hab´ das jetzt sehr simplifiziert dargestellt und außerdem jegliche Artikulationsmöglichkeit weggelassen)
Meine Frage ist, ob und wenn ja, mit welchen Mitteln du z.B. bei dieser Invention auf dem Klavier die Taktschwerpunkte darstellst?
Primär betrachte ich einen Notentext nicht als Rätselaufgabe, in welcher ich Taktschwerpunkte ermitteln müsste
sondern ich betrachte die Strukturen: motivischer/melodischer Verlauf, harmonischer Verlauf, rhythmische Eigenarten, klangliche Besonderheiten/Auffälligkeiten. Den Verlauf der motivischen Arbeit der Invention habe ich hoffentlich nachvollziehbar dargestellt. Da das Klavier kantabel klingen soll, ist die gestalterische Überlegung an den "Melodie-Instrumenten" (Violine, Gesang) orientiert, wohl wissend, dass das plumpe Klavier kein anschwellen eines Tones zulässt (mit diesem Mangel müssen wir leben - aber das Klavier hat ja ausreichend dynamische Möglichkeiten), kurzum
der Tonstärkenverlauf, die Dynamik ist also immer primär bei der Gestaltung melodischer/motivischer Verläufe.
Natürlich sind Bachsche Motive keine belcantoinspirierten Chopinmelodien
aber die Grundsätze melodischer Gestaltung/Phrasierung gelten zumindest auf Melodieinstrumenten auch für diese. Also wird immer die Melodiekurve klanglich gestaltet (mit cresc., dim., Phrasenenden absetzen) Eine ganz andere Frage ist die der Binnenartikulation innerhalb einer melodischen Phrase. Da haben wir gerade in der Barockmusik, wo viel weniger vorgeschrieben ist als bei Mozart, Beethoven oder Chopin, oftmals mehrere Möglichkeiten. Natürlich stellen die überlieferten "Regeln", die Orientierungen an Versfüßen (jambisch, daktylisch usw) etc solche Möglichkeiten dar, ohne dass sie zwingend notwendig die einzig richtigen wären (ich erinnere nochmals an das, was Haroncourt mitgeteilt hat über simultane differierenden Artikulationen bei Bach) Die Binnenartikulation (welche Anschlagsweise(n)****)) würde ich hier spontan davon abhängig machen, ob ich der ersten Invention einen eher gelehrsam-strengen oder einen heiter-tänzerischen Charakter geben will - beides ist völlig ok. Übrigens spiele ich selber nur die f-Moll und h-Moll Inventionen, erstere wegen ihrer beachtlichen Harmonik und ihres Lamento-Charakters, letztere wegen ihres motorischen Drive und beinah keck-parodistischen Charakters (die Septakordkette wird da ulkig vorgeführt als Mechanismus) -und je nach Laune letztere auch mal mit "falscher" Binnenartikulation (das würde jetzt zu weit führen - es gibt da einige witzige Möglichkeiten)
Ich hoffe, du kannst mit der umfangreich gewordenen Antwort was anfangen.
____________
*) genau dafür, als "Etüden" quasi, als anfängliche Studienwerke waren die zwei- und dreistimmigen Inventionen komponiert und führen in allerlei musikalische Verfahrensweisen ein.
**) ...ganz so doof ist wohl der lange Bogen nicht, unter dem sich vier kürzere befinden
***) die nebenbei trotz ihrer einfachen Imitationspolyphonie (sie ist keine Fuge, bestenfalls ein quasi Fugato) allerlei kompositorische Tricks wie korrekter Kontrapunkt, Spiegelung, Augmentation etc enthält.
****) es gibt gottlob viel mehr als nur legato und staccato!