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- 19. Juni 2013
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Frühlingsanfang, Zeitumstellung, Ostern: Wie schnell die Zeit voranschreitet! Schon rückt uns das zentrale Ereignis dieses Jahres auf den Pelz, und nein, nicht die Fußball-Europameisterschaft ist gemeint (wer will schon den Deutschen dabei zusehen, wie sie noch vor dem Viertelfinale rausfliegen?), sondern natürlich der 68. Eurovision Song Contest in Malmö/Schweden. Und wie so oft, findet das Spannendste bei diesem Schlagerwettbewerb (ursprünglich: „Grand Prix Eurovision de la Chanson européenne“, in Deutschland seit dem Jahre 2001 anglisiert zu „Eurovision Song Contest“, im Folgenden ESC genannt), hinter den Kulissen statt: der Streit um die Zulassung einzelner Beiträge, ein Kampf zwischen den Entscheidungsträgern innerhalb eines Landes oder auch zwischen dem nationalen Bewerber und der „European Broadcasting Union“, kurz EBU genannt.
Die EBU wacht über die Einhaltung der Zulassungsregeln (keine recycelten Songs, keine Werbung, keine Politik, keine überdimensionierte Begleitband etc.), und da gibt es offenbar einen gewissen Interpretationsspielraum. Dieses Jahr traf es das krisen- und kriegsgeplagte Israel, genauer gesagt: den von Eden Golan zu singenden Song „October Rain“, der wegen seiner politisch zu eindeutigen Stellungnahme in „Hurricane“ umgewandelt werden mußte – in einem komplexen Spiel mit etlichen Akteuren, der EBU, Israels Präsident Isaac Herzog, Israels Minister für Kultur und Sport Miki Zohar, dem israelischen Rundfunksender Kan und – last not least – den Textdichtern Avi Ohayon und Stav Beger, die aufgefordert wurden, den Text „unter Wahrung der vollen künstlerischen Freiheit neu zu gestalten“. Schöner läßt sich Zensur in einem demokratischen Land nicht bemänteln.
Hier wird gleich zweierlei deutlich: 1.) in autokratisch geführten Ländern reicht das Machtwort eines Staatsvertreters aus, um das (politisch) Anstößige in der Versenkung verschwinden zu lassen. In demokratisch geprägten Ländern bedarf es dazu eines längeren Streits zwischen den verschiedenen Lobbygruppen: (halb-)staatliche Institutionen, Rundfunksender, Schallplattenfirmen, Text- und Musiklieferanten. 2.) Anstößig ist fast immer nur der Text. Noch nie wurde ein Stück wegen seiner musikalischen Unterkomplexität zurückgezogen.
Kein ESC-Skandal, aber doch erwähnenswert: Der kurioseste Fall staatlicher, rein textbezogener Zensur ist aus der Sowjetunion überliefert. Sie betraf den Estradensänger Eduard Chil. 1966 wurde ihm ein harmloser Schlagertext als zu US-freundlich gestrichen. Aber die Musik blieb unbeanstandet. Was tun mit dem guten Stück? Eduard Chil sang es einfach ohne Text, als Vokalise, was ihm später (zu Internet-Zeiten) den Spitznamen "Mister Trololo" einbrachte:
Die EBU wacht über die Einhaltung der Zulassungsregeln (keine recycelten Songs, keine Werbung, keine Politik, keine überdimensionierte Begleitband etc.), und da gibt es offenbar einen gewissen Interpretationsspielraum. Dieses Jahr traf es das krisen- und kriegsgeplagte Israel, genauer gesagt: den von Eden Golan zu singenden Song „October Rain“, der wegen seiner politisch zu eindeutigen Stellungnahme in „Hurricane“ umgewandelt werden mußte – in einem komplexen Spiel mit etlichen Akteuren, der EBU, Israels Präsident Isaac Herzog, Israels Minister für Kultur und Sport Miki Zohar, dem israelischen Rundfunksender Kan und – last not least – den Textdichtern Avi Ohayon und Stav Beger, die aufgefordert wurden, den Text „unter Wahrung der vollen künstlerischen Freiheit neu zu gestalten“. Schöner läßt sich Zensur in einem demokratischen Land nicht bemänteln.
Hier wird gleich zweierlei deutlich: 1.) in autokratisch geführten Ländern reicht das Machtwort eines Staatsvertreters aus, um das (politisch) Anstößige in der Versenkung verschwinden zu lassen. In demokratisch geprägten Ländern bedarf es dazu eines längeren Streits zwischen den verschiedenen Lobbygruppen: (halb-)staatliche Institutionen, Rundfunksender, Schallplattenfirmen, Text- und Musiklieferanten. 2.) Anstößig ist fast immer nur der Text. Noch nie wurde ein Stück wegen seiner musikalischen Unterkomplexität zurückgezogen.
Kein ESC-Skandal, aber doch erwähnenswert: Der kurioseste Fall staatlicher, rein textbezogener Zensur ist aus der Sowjetunion überliefert. Sie betraf den Estradensänger Eduard Chil. 1966 wurde ihm ein harmloser Schlagertext als zu US-freundlich gestrichen. Aber die Musik blieb unbeanstandet. Was tun mit dem guten Stück? Eduard Chil sang es einfach ohne Text, als Vokalise, was ihm später (zu Internet-Zeiten) den Spitznamen "Mister Trololo" einbrachte:
Vocalise
Aus dem freien Westen, dem ESC-Sendebereich, ist nur ein so direkter staatlicher Eingriff bekanntgeworden: 1968, im franquistischen Spanien. Aus dem katalanisch-sprachigen Protestsong „Na, na, na“ wurde das spanisch-sprachige „La, la, la“, dargeboten von Massiel:
La, la, la
Im Westen erscheint die Zensur in subtilerem Gewand, wie schon beschrieben als Zusammenspiel politischer und wirtschaftlicher Interessen und oft mit vorauseilendem Gehorsam der Textlieferanten. Erinnert sich noch jemand an „Totaler Frieden, totale Freiheit“, den westdeutschen Grand-Prix-Beitrag von 1982? Niemand? Kein Wunder. In dieser Form kam der Song nie zu Gehör. Er widersprach der damaligen NATO-Aufrüstungsdoktrin („Es gibt wichtigere Dinge, als in Frieden zu leben“, erklärte seinerzeit der US-Verteidigungsminister Alexander Haig). Hinter den Kulissen kam es zu einem wüsten Gefeilsche zwischen Bernd Meinunger, dem Textdichter, und gewissen höheren Stellen um den zu quantifizierenden Friedensanteil in diesem Lied. Was übrigblieb, war die Schwundstufe pazifistischer Gesinnung:
La, la, la
Im Westen erscheint die Zensur in subtilerem Gewand, wie schon beschrieben als Zusammenspiel politischer und wirtschaftlicher Interessen und oft mit vorauseilendem Gehorsam der Textlieferanten. Erinnert sich noch jemand an „Totaler Frieden, totale Freiheit“, den westdeutschen Grand-Prix-Beitrag von 1982? Niemand? Kein Wunder. In dieser Form kam der Song nie zu Gehör. Er widersprach der damaligen NATO-Aufrüstungsdoktrin („Es gibt wichtigere Dinge, als in Frieden zu leben“, erklärte seinerzeit der US-Verteidigungsminister Alexander Haig). Hinter den Kulissen kam es zu einem wüsten Gefeilsche zwischen Bernd Meinunger, dem Textdichter, und gewissen höheren Stellen um den zu quantifizierenden Friedensanteil in diesem Lied. Was übrigblieb, war die Schwundstufe pazifistischer Gesinnung:
Ein bißchen Frieden
Erinnert sich noch jemand an Serge Gainsbourgs grandiose „Femme libre et indépendante“, gesungen von der zuckersüßen France Galle? Niemand? Die französische Jury äußerte Bedenken, und so kam der Chanson mit einer kleinen Textvariante heraus:
Poupée de cire, poupée de son
Genauso erging es 1967 Sandie Shaw mit „Woman at the top“, dem Credo weiblichen Empowerments. Anstelle des unaushaltbaren Melodie-Ohrwurms wurde am Text herumgepfuscht, und heraus kam:
Puppet on a string
Deutlich wird hier das antiquierte Frauenbild einer von alten weißen Männern dominierten Grand-Prix-Jury… Aber selbst harmloseren Schlagern wurde der Garaus gemacht. Aus Udo Jürgens’ knallhartem „Tschau, tschau mit au“ wurde das samtweiche
Merci, Chérie
Was blieb von ABBA’s genialem „Austerlitz“? Nichts als die Grand-Prix-Version von 1973:
Waterloo
Aus „Oceans of love“ bzw. „Save our souls“ von der „Brotherhood of Man“ wurde
Save your kisses for me
1975 wurde aus „King Kong“ der Gruppe „Teach in“ das harmlose
Poupée de cire, poupée de son
Genauso erging es 1967 Sandie Shaw mit „Woman at the top“, dem Credo weiblichen Empowerments. Anstelle des unaushaltbaren Melodie-Ohrwurms wurde am Text herumgepfuscht, und heraus kam:
Puppet on a string
Deutlich wird hier das antiquierte Frauenbild einer von alten weißen Männern dominierten Grand-Prix-Jury… Aber selbst harmloseren Schlagern wurde der Garaus gemacht. Aus Udo Jürgens’ knallhartem „Tschau, tschau mit au“ wurde das samtweiche
Merci, Chérie
Was blieb von ABBA’s genialem „Austerlitz“? Nichts als die Grand-Prix-Version von 1973:
Waterloo
Aus „Oceans of love“ bzw. „Save our souls“ von der „Brotherhood of Man“ wurde
Save your kisses for me
1975 wurde aus „King Kong“ der Gruppe „Teach in“ das harmlose
Ding-a-dong
Hier die Herrenausstatter-Version von „Herreys“ „Diggi-loo Diggi-ley“ (ursprünglich „Diggi Loo, Diggi Ley"):
Diggi-loo Diggi-ley
Aber das größte Rätsel der gesamten Grand-Prix/ESC-Geschichte bietet „Nocturne“, der 1995er Nr. 1-Hit des norwegischen Duos „Secret Garden“, ein fast rein orchestrales Stück – und übrigens sehr schön, wenn man es nicht zu oft hört. Eingerahmt von einem Kurzauftritt der Sängerin Gunnhild Tvinnereim, die einen sehr poetischen, nicht streng syllabisch vertonten Kurztext singen darf (schlappe 24 Worte = 34 Silben), kommt ein langsamer Walzer zu Gehör, moll-lastig, dominiert von der irischen Geigerin Fionnuala Sherry. Ob der Gesangspart vielleicht viel länger gewesen ist? Wer hat da was zensiert?
Diggi-loo Diggi-ley
Aber das größte Rätsel der gesamten Grand-Prix/ESC-Geschichte bietet „Nocturne“, der 1995er Nr. 1-Hit des norwegischen Duos „Secret Garden“, ein fast rein orchestrales Stück – und übrigens sehr schön, wenn man es nicht zu oft hört. Eingerahmt von einem Kurzauftritt der Sängerin Gunnhild Tvinnereim, die einen sehr poetischen, nicht streng syllabisch vertonten Kurztext singen darf (schlappe 24 Worte = 34 Silben), kommt ein langsamer Walzer zu Gehör, moll-lastig, dominiert von der irischen Geigerin Fionnuala Sherry. Ob der Gesangspart vielleicht viel länger gewesen ist? Wer hat da was zensiert?
Nocturne
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