I
Ijon Tichy
Guest
Die Frage nach dem Bewahren und dem Vergessen von Komponisten, also eigentlich die Frage nach der Bildung eines musikalischen Kanons, ist auch einer der virulentesten, weil schwierigsten Diskussionsgegenstände in der wissenschaftlichen Musikhistoriographie. Das Problem ist aber so vielschichtig, dass man es hier einfach nicht in der gebotenen Schärfe auseinandersetzen kann. Aber vielleicht hilft eine kleine, große Anekdote...
Man kann zahlreiche Beispiele anführen, die zeigen, dass es nicht zwangsläufig ästhetische Kriterien sind, die entscheiden, ob Komponisten und ihr Schaffen Eingang in den akzeptierten Kanon finden. Einer meiner Lieblingsfälle ist:
Johann Sebastian Bach: Was wäre die Geschichte der abendländischen Musik ohne den fleißigen Bach, der von 1723 bis zu seinem Tod 1750 als Thomaskantor in Leipzig ein Vierteljahrhundert Musikgeschichte offenbar im Allgeingang bestritt? Der nicht nur die Thomaskirche, sondern auch die Nikolaikirche und weitere Gotteshäuser mit seiner Musik versorgt hat? Aber auch mit der Geschichte des Gewandhauses ist der Name Bach verbunden, weil er sich der bürgerlichen Musik genauso verpflichtet fühlte; unter seiner Leitung gelangte das seinerzeit von Georg Philipp Telemann gegründete Collegium Musicum zu hohem Ansehen, das ja gewissermaßen – jedenfalls konzeptuell – der Vorläufer des 1743 gegründeten Gewandhaus-Orchesters war. Um wie viel leerer wären unsere musikalischen Museen, also Konzertsäle, gäbe es nicht die monumentale h-Moll-Messe, die Johannes- und Matthäuspassion; könnten wir nicht jeden Tag des Kirchenjahres auf zahlreiche Bach-Kantaten zurückgreifen; gäbe es das Wohltemperierte Klavier und die Kunst der Fuge nicht, ganz zu schweigen von den Clavierbüchlein, den Goldbergvariationen, den Orchestersuiten – ?
Ja, was wäre denn? Dass der gute Johann Sebastian gar nicht erst nach Leipzig gekommen wäre, scheint gar nicht so abwegig. Denn als die Stelle des Thomaskantors nach dem Tode Johann Kuhnaus vakant war und der Leipziger Stadtrat nach einem geeigneten Nachfolger unter den zahlreichen Bewerbern suchte, war zunächst Georg Philipp Telemann von Interesse, der seinen Posten in Hamburg jedoch infolge einer entsprechenden Gehaltsaufstockung dann doch nicht aufzugeben gedachte. Erst als dann auch noch Christoph Graupner – den heute wirklich fast niemand mehr kennt – absagte, weil sein Dienstherr Ernst Ludwig von Hessen ihm die Entlassung verweigerte, entschied man sich für Bach, der in diesem Sinne nur die »dritte Wahl« darstellte.
So viele Werke Bachs, die wir heute zu den Meilensteinen der Musikgeschichte zählen, sind so stark mit der spezifischen Beschaffenheit der »Musikstadt« Leipzig verwoben, dass es unwahrscheinlich ist, dass Bach sie woanders komponiert hätte, oder dass er, hätte er sie komponiert, zu solch posthumer Berühmtheit gelangt wäre.
Ob der Name Johann Sebastian Bach zu mehr taugte als einer Fußnote in den großen Biographien über den weitberühmten Kantor zu St. Thomae und Director Musices Christoph Graupner, wäre dieser Anno 1723 aus seinen hessischen Diensten entlassen worden? Würde die Stadt Leipzig heute alljährlich das Graupner- und nicht das Bachfest ausrichten? Stünden nicht Bachs Englische und Französische, sondern Graupners Cembalosuiten auf den Konzertplänen (die ich übrigens wärmstens empfehle)? Fragen, Fragen, Fragen…
Es ist ein ganz selbstverständlicher Vorgang, dass wir geschichtliche Gegenstände wie z. B. Musikwerke ihrer Geschichtlichkeit entledigen und sie als vorrangig ästhetische behandeln. Wir dürfen uns nur nicht zu der auktorialen Arroganz hinreißen lassen, zu glauben, die Geschichte sei notwendig so verlaufen, wie wir sie interpretieren.
Man kann zahlreiche Beispiele anführen, die zeigen, dass es nicht zwangsläufig ästhetische Kriterien sind, die entscheiden, ob Komponisten und ihr Schaffen Eingang in den akzeptierten Kanon finden. Einer meiner Lieblingsfälle ist:
Johann Sebastian Bach: Was wäre die Geschichte der abendländischen Musik ohne den fleißigen Bach, der von 1723 bis zu seinem Tod 1750 als Thomaskantor in Leipzig ein Vierteljahrhundert Musikgeschichte offenbar im Allgeingang bestritt? Der nicht nur die Thomaskirche, sondern auch die Nikolaikirche und weitere Gotteshäuser mit seiner Musik versorgt hat? Aber auch mit der Geschichte des Gewandhauses ist der Name Bach verbunden, weil er sich der bürgerlichen Musik genauso verpflichtet fühlte; unter seiner Leitung gelangte das seinerzeit von Georg Philipp Telemann gegründete Collegium Musicum zu hohem Ansehen, das ja gewissermaßen – jedenfalls konzeptuell – der Vorläufer des 1743 gegründeten Gewandhaus-Orchesters war. Um wie viel leerer wären unsere musikalischen Museen, also Konzertsäle, gäbe es nicht die monumentale h-Moll-Messe, die Johannes- und Matthäuspassion; könnten wir nicht jeden Tag des Kirchenjahres auf zahlreiche Bach-Kantaten zurückgreifen; gäbe es das Wohltemperierte Klavier und die Kunst der Fuge nicht, ganz zu schweigen von den Clavierbüchlein, den Goldbergvariationen, den Orchestersuiten – ?
Ja, was wäre denn? Dass der gute Johann Sebastian gar nicht erst nach Leipzig gekommen wäre, scheint gar nicht so abwegig. Denn als die Stelle des Thomaskantors nach dem Tode Johann Kuhnaus vakant war und der Leipziger Stadtrat nach einem geeigneten Nachfolger unter den zahlreichen Bewerbern suchte, war zunächst Georg Philipp Telemann von Interesse, der seinen Posten in Hamburg jedoch infolge einer entsprechenden Gehaltsaufstockung dann doch nicht aufzugeben gedachte. Erst als dann auch noch Christoph Graupner – den heute wirklich fast niemand mehr kennt – absagte, weil sein Dienstherr Ernst Ludwig von Hessen ihm die Entlassung verweigerte, entschied man sich für Bach, der in diesem Sinne nur die »dritte Wahl« darstellte.
So viele Werke Bachs, die wir heute zu den Meilensteinen der Musikgeschichte zählen, sind so stark mit der spezifischen Beschaffenheit der »Musikstadt« Leipzig verwoben, dass es unwahrscheinlich ist, dass Bach sie woanders komponiert hätte, oder dass er, hätte er sie komponiert, zu solch posthumer Berühmtheit gelangt wäre.
Ob der Name Johann Sebastian Bach zu mehr taugte als einer Fußnote in den großen Biographien über den weitberühmten Kantor zu St. Thomae und Director Musices Christoph Graupner, wäre dieser Anno 1723 aus seinen hessischen Diensten entlassen worden? Würde die Stadt Leipzig heute alljährlich das Graupner- und nicht das Bachfest ausrichten? Stünden nicht Bachs Englische und Französische, sondern Graupners Cembalosuiten auf den Konzertplänen (die ich übrigens wärmstens empfehle)? Fragen, Fragen, Fragen…
Es ist ein ganz selbstverständlicher Vorgang, dass wir geschichtliche Gegenstände wie z. B. Musikwerke ihrer Geschichtlichkeit entledigen und sie als vorrangig ästhetische behandeln. Wir dürfen uns nur nicht zu der auktorialen Arroganz hinreißen lassen, zu glauben, die Geschichte sei notwendig so verlaufen, wie wir sie interpretieren.
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