"Dadurch, daß der Komponist diese Dissonanzen als kleine Nötchen notierte, entschuldigte er sich gleichsam für diesen ungehörigen Regelverstoß (und demonstrierte, daß er die Regeln durchaus kannte) ... Jörg Gedan und Axel können hierzu sicherlich Detaillierteres beitragen", sprach Koelnklavier. Nun ist es jedoch so, daß Vorhalte keineswegs "verboten" waren, Vorhaltbildungen gehorchten in vorbarocker Musik nur strengeren Regeln, als Bach sie angewendet hat, der aber ja nun keineswegs jeden Vorhalt als Vorschlag notiert hat. Das hat man aber auch vor Bach schon nicht getan.
Entstanden ist der Usus, akkordfremde Töne als Vorschlag zu notieren, vielleicht aus der Tatsache, daß in früher Cembalomusik oft nur das harmonische Gerüst notiert war, das dem Spieler lediglich als Vorlage zur Auszierung und Diminuation diente. Da hat er dann vielleicht ein paar kleine Nötchen nachgetragen, um sich zu merken, wie er's ausführen will. Ob das tatsächlich der Grund ist, weiß ich nicht, und darüber möge man lieber Spezialisten für Alte Musik befragen, aber es ist die plausibelste Erklärung für eine Konvention, die sich bei manchem Komponisten länger als nötig erhalten hat -- selbst noch bei Schubert, der folgendes notiert ("Ich träumte von bunten Blumen", Winterreise):
Achtel-Vorschlagnote h (Quartvorhalt) - Viertelnote a - Achtelnote a
auf das Wort "Blumen", das dann eigentlich als "Blu-u-men" auf die Achtelnoten h-a-a zu singen wäre. Singt aber keiner. Stattdessen wird die Hauptnote, die notierte Viertelnote a, vollständig vom Vorschlag ersetzt, und üblicherweise singt hier jeder:
Viertelnote h - Achtelnote a.
Es finden sich in Schubert-Liedern zahlreiche ähnliche Beispiele.
Mit der Mühsal des Notenstichs hat das nicht das mindeste zu tun, denn es ist egal, ab man den Platz, den ein Vorschlag benötigt, planend reserviert (und das muß man im Notenstich -- man muß die Breite aller Notenwerte und Zeichen festlegen, BEVOR man die Platte sticht) oder den Vorhalt in Normalgröße ausschreibt und eben das planend berücksichtigt. Im Gegenteil: das Arbeiten mit sehr kleinen Werkzeugen ist wahrscheinlich mühsamer. Außerdem stammt die Konvention aus einer Zeit, als es den Notenstich noch nicht gab. Es könnte also allenfalls mit der Mühsal der Handschrift zu tun haben, bei der ja schneller ein Vorschlag irgendwo dazwischengequetscht ist als alles haarklein und genau ausgeschrieben.
Henles Video ist übrigens veraltet, denn dort wird gesagt, daß auch heute noch manches gestochen würde -- das ist aber ein paar Jahre her, auch Henle hat die allzu aufwendige und teure Methode inzwischen begraben und arbeitet mit Finale.
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Jörg Gedan
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