Das stimmt nicht. Gelungener Ausdruck kann nur in Auseinandersetzung mit der "Tradition" gefunden werden.
Originalität steht nie am Anfang sondern ist immer das Resultat mühseliger Aneignung und Nachahmung.
Ich kann kein schönes Gedicht schreiben, ohne mir einen Wortschatz angeeignet zu haben, die Fehler und den Fortschritt der vorangegangenen Epochen zu kennen etc. Sonst schreibt man Blödsinn wie die ersten Menschen.
Ob das wirklich Blödsinn war? Unter den gegebenen Zeitumständen? Und den sonstigen Umständen? Hatte es da nicht denselben Stellenwert wie das schöne Gedicht, von dem Du hier sprichst?. Dieselbe Originalität und Kreativität? Da gab es noch keine Tradition, die man hätte studieren können, und doch haben die Leute Geschichten erzählt, Musik gemacht, gemalt, geschnitzt, gebildhauert. Das wäre dann eigentlich gar nicht möglich gewesen. Jemand muss der Erste gewesen sein, damit andere das dann studieren konnten. Wenn sie das wollten. Und die ersten hatten keine Vorbilder, sondern das kam nur aus ihnen selbst.
Ich glaube nicht, dass Originalität NIE am Anfang steht und dass man IMMER aus einer Tradition lernen und sie nachahmen muss. Heutzutage ist das sicher in den meisten Fällen so, weil wir so viel Tradition haben, aber früher? Ganz früher? Als es noch keine Tradition gab? Ich muss die vorangegangenen Epochen nicht kennen, um ein gutes Gedicht zu schreiben oder eine Melodie zu erfinden, sie einfach vor mich hinzupfeifen.
Besonders die Melodie wird vermutlich nicht originell sein, weil es schon so viel Musik gibt. Auch das Gedicht eventuell nicht. Aber trotzdem kann ich es schreiben, ohne die Tradition zu kennen, aus mir heraus. Heutzutage gibt es praktisch keine Originalität mehr, weil wir schon so viele Generationen vor uns hatten, die praktisch schon alles durchexerziert haben, aber das heißt nicht, dass man alles kennen muss, um das überhaupt tun zu können. Nur dann, wenn man zum Beispiel in einem ganz bestimmten Stil schreiben, komponieren oder spielen will. Aber ich kann ja auch meinen eigenen Stil erfinden, ohne je irgendetwas von denen, die vor mir waren gehört oder gelesen zu haben. Unmöglich ist das nicht.