Lieber Caligulaminix,
Rituale sind notwendig um eine Gemeinschaft zu festigen. Die gemeinschaftliche Beschäftigung
mit dem Thema der Erkenntnisse des oder der Erleuchteten, wie die Feier einer Messe,
das Gebet oder der Gesang themenbezogener Lieder, sind demnach Rituale.
Wie sollte ein einziges Ritual eine Religion ersetzen?
diese sozusagen religionswissenschaftlich-neutrale Beschreibung des Phänomens
"Kultpraxis" wird dem Selbstverständnis einer Kultgemeinschaft nicht gerecht.
Die gemeinschaftsstiftende Funktion von Ritualen gilt auch für Vereine,
Fan-Clubs, Sportmannschaften, Geheimbünde und Kriegerkasten.
Im religiösen Kontext ist die Selbstvergewisserung der Gemeinschaft ein Nebenprodukt.
Hauptsächlich geht es um die
Heils-Vergewisserung, ein innerreligöses Problem.
Um Deine Frage zu beantworten - tatsächlich ist es so, daß mit konzertanten Meß-
Aufführungen Bestandteile einer Kultpraxis aus ihrem Zusammenhang gerissen worden sind:
die fünf Ordinariums-Meßteile, die in der Hl.Messe nicht brav hintereinander erklingen,
sondern von Lesungen, Gebeten, Zeichenhandlungen und anderer liturgischer Gebrauchsmusik
unterbrochen werden. Erst Aufführungen im Konzertsaal oder in der Kirche als Bestandteil
eines Kirchen
konzerts machen aus der Vertonung der fünf Ordinariums-Meßteile
ein autonomes Kunstwerk - die 'Messe'.
Wobei man hinzufügen muß: Als autonomes Kunstwerk haben die Komponisten ihre
Meß-Vertonungen seit der Frührenaissance verstanden. Der Zerstückelung ihrer Musik
haben sie durch identische Anfänge aller fünf Ordinariumsteile entgegengewirkt -
als Mittel zur Verklammerung. Die Identität der 'Osanna'-Teile wurde musikalisch ebenfalls
zur Verklammerung genutzt. Später kommen Techniken der motivischen Verarbeitung hinzu,
Querbezüge zwischen allen fünf Meßteilen.
All das kommt erst bei einer geschlossenen Aufführung im Konzert zur Geltung.
Außerdem hat die nach dem II.Vatikanum praktizierte Liturgiereform die 'Messe'
regelrecht in den Konzertsaal
verbannt: durch Verzicht aufs Latein als Liturgiesprache
und durch die Förderung des Gemeindegesangs.
Wenn aber nun eine konzertant aufgeführte Messe der Gemütserhebung à la Wackenroder
dienen soll, als Alternative zum Gebet und zu sakramentalen Handlungen,
dann ist das Etikettenschwindel. Die aus dem Zusammenhang gerissenen Bestandteile
eines Rituals stiften eine neue Religion, die des Bildungsbürgers,
der sich 'Transzendenzbezug' durch Musikgenuß verspricht.
Lieber PiRath,
das sind ja paradiesische Zustände, die Du schilderst! Hier in Deutschland erinnern
Gottesdienste bzw. Meßfeiern eher an ein Gemisch aus Talkshow und Kindergeburtstag.
Herzliche Grüße,
Gomez
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