Der Gap zwischen "abgehakt" und "vorführreif"

Irgendwie habe ich das Gefühl der Gap zwischen abgehakt und vorspielreif wird mit der Zeit immer größer. Jedenfalls bei mir ist das so. Zudem fällt es mir immer schwerer etwas überhaupt als Vorspielreif zu bezeichnen.
Die Ansprüche verändern sich ja auch mit dem eigenen Level auf dem man spielt, oder? Als Anfänger bin ich froh, die richtigen Tasten zu finden. Dann vielleicht Fehlerfreiheit. Dann will ich auch noch Dynamik. Später mal Ausdruck.
Insofern ist die Definition "vorführreif" auch immer eine andere.
Für den Anfang bin ich zumindest froh, nicht gleich in Ohnmacht zu fallen, wenn jemand sagt: "Oh, du spielst Klavier! Spiel doch mal was vor."
 
Was kann man denn tun, um dieses musikalische Feingefühl zu üben?
Man muss sein musikalisches Gehör immer weiter verfeinern und verbessern. Das geht nicht über Nacht, daran arbeitet man jeden Tag auf's neue, vermutlich sein Leben lang.

Immerhin kannst du dir selber gratulieren, dass du hier einen Mangel erkannt hast - das ist nämlich die wichtigste Voraussetzung, um überhaupt etwas zu erreichen. Viele (wahrscheinlich sogar die meisten) erwachsenen Einsteiger glauben offensichtlich, dass sie das Musikalische eh mitbringen und nur deshalb nicht auf Profi-Niveau spielen, weil ihnen die Technik dazu fehlt. Was für ein grotesker Irrtum! Beides muss sich parallel entwickeln, und die Technik ist so gut wie immer das kleinere Übel.
 
Dann gratuliere ich dir zu dieser Lehrkraft!
Für mich gehört da noch dazu, dass ich auch erklärt bekomme WARUM ich es so oder so spielen soll. Dann kann ich mir das auch merken, ohne es auswändig lernen zu müssen. Mein KL erklärt neben der Musiktheorie dahinter z.B. oft die historischen Hintergründe mit. Das hilft mir sehr mich in ein Stück rein zu denken.
 
Meine Lehrerin fordert (selbst von den Kindern) ein hohes Maß an Eigeninitiative: Wenn sie den Eindruck hat, daß ihre Schüler wissen, worum es in dem Stück geht und dieses Wissen auch technisch und musikalisch umzusetzen in der Lage sind, wird es als Unterrichtsstoff „abgehakt“. D.h. es bleibt der Eigeninitiative des Schülers überlassen, das Stück zu perfektionieren und zu pflegen. Sie dürfen sich auch weiterhin Kommentare und Vorschläge zur Gestaltung abholen, aber der Schüler wird ab einem gewissen Stadium „in die Freiheit entlassen“. Es gibt also neben dem eigentlichen Unterrichtsprogramm immer auch den Bereich der Repertoirepflege, der ein ähnlich großes Zeitbudget beanspruchen sollte.
 
D.h. es bleibt der Eigeninitiative des Schülers überlassen, das Stück zu perfektionieren und zu pflegen.

Gibt sie denn denn dann auch Tipps oder Hinweise, wie genau das zu machen ist? Mal abgesehen von dem zeitlichem Pensum (neben der Erarbeitung neuer Stücke auch am Repertoire zu arbeiten) ist das ja genau meine Frage: Wie sieht denn der Weg genau aus - hin z. B. zu einem vorspielreifen Repertoire?
Ob eine Schüler*in das eigenständig und selbstorganisiert hinbekommt hängt ja auch vom jeweiligen Level ab.
lg Inifee
 
Ja, detaillierte Tips und Hinweise bekommt man zur Genüge. Man muß sie sich aber ab einem gewissen Punkt abholen und bekommt sie nicht mehr frei Haus geliefert. „Selbstorganisation“ kann man bei ihr lernen. Lernwillig muß man allerdings schon sein (was mitunter schon anstrengend ist).
 
Ich würde sagen, es gibt keine echte Repertoirepflege. Die "abgehakten" Stücke sind doch nur zu 80-90% "fertig", allein schon weil sie erst frisch erlernt wurden. Man kann Jahre später, wenn man deutlich mehr kann, an den dann "leichten" alten Stücken arbeiten und sie musikalisch mit eigenen Ohren verbessern.

Ich rate vielmehr sogar davon ab, Stücke ständig warmzuhalten.

Am Ende werden noch neue Fehler reingeübt...
 
Am Ende werden noch neue Fehler reingeübt...
Und man wird "unsensibler" und "abgestumpfter" in Bezug auf auf musikalische Details. Ich finde das bei Stücken die man lange spielt/ übt mitunter die größte Herausforderung trotzdem mit genügend "Empfindsamkeit" zu üben und nicht ins unbeteiligte Ausführen abzurutschen. Ich merke das bei mir sehr schnell, dass man (und seien es nur einzelne Takte) abspult. Das kostet irre Kraft und Aufmerksamkeit und je besse rman das Stück kann, desto leichter kommt man in dieses Fahrwasser.
 
Ich spiele das (notorische) Präludium und auch die Fuge in C-Dur immer als Schluss einer Übesession. In der Fuge übe ich vorher kurz eine oder zwei Hakelstellen (die Durchführung in a-Moll konnte ich mal ohne falsche Töne, aber seit ich besser durchhöre, gelingt es mir wieder nicht mehr :angst: ). Beim Präludium horche ich jedesmal woanders hin: gestern auf die harmonische Spannungsabfolge, heute auf den Übergang von links nach rechts, morgen auf den charakteristischen Rhythmus links, übermorgen auf die minimal doch vorhandene Dynamik, nächste Woche auf die großartige Hinführung zum Orgelpunkt (der zusätzliche Takt von Schwencke ist gut erdacht, aber darf unbedingt nicht stehen), auf das lange Fade Out über dem Orgelpunkt - und: die letzten drei Takte stimmen im Mikrorhythmus noch nicht. Das "fehlende" c' im Schlussakkord habe ich auch noch nicht ganz verstanden.
 

Naja, ganz doof ist diese Ver"besserung" nicht. Bei Henle auf der Website (einfach guhgeln) gibts eine nette Erläuterung.

Das G-Dur-Impromptu (und noch dazu ein abgeänderter Takt) ist deutlich prutaler.
 
Vielen Dank für die vielen Tipps :001:
Ich habe diese mal zusammengefasst:

Der Weg von „abgehakt“ zu „vorführreif“
Zum Üben (mit einem Versuch, es nach einem (persönlichen) Steigerungsgrad zu sortieren):
  • die Harmonien/ Musiktheorie des Stückes analysieren und verstehen
  • Stück-Struktur klären ggf. Kopie zerschneiden + in Sinnabschnitte einteilen -> Noten-Bild merken
  • an verschiedenen Einstiegsstellen beginnen
  • nicht immer von vorne bis hinten durch, sondern gemischt an verschiedenen (sinnvollen) Einstiegsstellen beginnen (Random-Prinzip)
  • mit rotierender Aufmerksamkeit spielen (Dynamik, Musikalität, …)
  • 3 x fehlerfrei hintereinander spielen
  • das Stück mit Metronom spielen (3 mal hintereinander fehlerfrei)
  • das Stück mit Metronom 10 % schneller (3 mal fehlerfrei hintereinander)
  • auswendig lernen + spielen
  • übertrieben langsam spielen (halbes Tempo)
  • Stück mit geschlossenen Augen spielen
  • Stück aufnehmen – mit „Drumherum“ = Rotlicht-Syndrom (aufnehmen geht bei jedem Stadium, auch um sich selbst einen Eindruck vom eigenen Spiel zu verschaffen); 3 mal hintereinander fehlerfrei aufnehmen
Zum Repertoire:
  • Stück weglegen und nach einer Zeit wieder spielen, als ob man es noch nie gesehen hätte
  • auf fremden Klavieren spielen
  • regelmäßig immer wieder spielen

Zum Vorspielen:

dem/ der KL vorspielen – Freund*innen vorspielen – öffentlich vorspielen

Ich bin überzeugt, wenn man alle Punkte in der Liste oben "abgearbeitet" hat, könnte man sich trauen, zu behaupten, es vorspielen zu können :007:
lg Inifee
 
Mir fehlt da noch was, was zumindest für mich ganz wichtig war. Fehlertoleranz sich selbst gegenüber, bevor ich die hatte, war ich viel zu verkrampft um brauchbar zu performen.
Ich persönlich habe sie bekommen indem ich eine Präsentation gestartet habe, wie schlecht ein Anfänger spielt. Was sich dann ganz schnell konterkariert hat, weil ich schlagartig deutlich besser wurde.
 
Aus eigener Erfahrung hätte ich da noch zwei oder drei Punkte:
- Schwierigkeitsgrad. Ich neige oft dazu, Stücke zu spielen, die eigentlich jenseits dessen liegen, was ich am Ende sauber spielen kann. Das sollte man sich bei Stücken, die man vorspielen möchte abgewöhnen, also lieber einen Schritt zurück.
- Kritisch mit sich selbst umgehen. Wie oft spielt man über eine Stelle hinweg, die nicht sauber sitzt, weil sie einem nicht wichtig erscheint. "Ach, die Stelle übe ich später mal, wenn der Rest sitzt". Da übt man den Fehler gleich mit ein. Also muss man sich die Stellen, die noch haken bewusst machen und die sauber üben.
- Nimm Dich auf. Im Video fällt einem mehr bzw. andere Sachen auf als wenn man selber gerade spielt und die Aufnahmesituation simuliert ganz gut den Druck eines Vorspiels.
- Geduld. Fehlerfreiheit dauert. Wie heißt es so schön - der Laie übt solange, bis es klappen kann, der Profi solange, bis es nicht mehr schief gehen kann.
 

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