Vielen Dank für die bisherigen Reaktionen, Anmerkungen, Hinweise...! Für mich sehr hilfreich, da ich mit der Aufnahme selbst nicht recht glücklich bin. Es ist sehr schwer, eine überzeugende Interpretation dieses Prelude hinzubekommen. Das Stück wird von vielen Pianisten recht unterschiedlich interpretiert und ehrlich gesagt gibt es immer etwas, das mir nicht zusagt (zu viel Rubato, zu "ätherisch", zu starke Kontraste, zu schnell / zu langsam,...). Selbst bei Rubinstein
Den Zugang über die Klangfarben der Modulationen finde ich am vielversprechendsten!
Lieber Chaireas,
ich erzähle im Unterricht öfters davon, dass ein Stück im Moment des Spielens auf einer imaginären Bühne erklingt, hinter dieser Bühne aber ein Vorhang verläuft, hinter dem viele, viele musikalische Ereignisse und Parameter ablaufen, die das Stück ausmachen. Je mehr wir diese Dinge hören, je mehr wir beim Erarbeiten des Stücks wahrnehmen, je mehr wir erfahren und erleben, desto tiefgründiger, bewegender und intensiver wird unsere Interpretation sein. Unsere Aufgabe ist also, beim Üben diese Dinge hören zu lernen und zu reflektieren, die Umsetzung aufs Instrument erfolgt im besten Fall nebenbei.
Was erklingt denn "hinter dem Vorhang"?
1. Einmal die
melodischen Strukturen, die
horizontalen Linien und Stimmen, die man genauestens kennen sollte. Dazu gehört auch das Wissen um die Form und den Aufbau des Stücks vom Großen zum Kleinen hin. Die Herausforderung in diesem Stück besteht darin, die melodischen Bögen weit zu spannen und genau zu wissen, welche Töne der Melodie zu einer Phrase gehören, wie diese aufgebaut ist und phrasiert wird. Die Pausen verleiten gern zu "Löchern" und Brüchen. Phrasierung bedeutet einmal, Aufbau, Länge und Struktur der Phrasen zu kennen, quasi eine musikalische Interpunktion mit Kommata, Punkten etc. zu setzen, und zum zweiten diese zu gestalten. Wo spiele ich hin, wo spannt/entspannt sich die Phrase? Hier könnte man sich auch die Melodie als Arie vorstellen, in deren Pausen der Sopran atmet.
Kannst du die Melodie (nicht die rechte Hand, sondern nur die Oberstimme) der einzelnen Phrasen mit freiem Fingersatz ohne Probleme auswendig spielen oder singen/summen? Weißt du, wie die Phrasen zueinander stehen, wie lang einer Phrase ist (ruhig mal Takte zählen), welche Phrase mehr Spannung hat, welche weniger, wo es Überraschungen gibt, weil man anderes erwartet? Nach meinem Empfinden - bitte korrigiere mich, wenn ich falsch liege -, konzentrierst du dich im Stück zu sehr auf die Achtel. Den Fokus mal völlig zu verändern auf die melodische Struktur, wäre sehr wichtig aus meiner Sicht. Übrigens würdest du dann vermutlich auch hören, dass die aufsteigenden Achtel z.B. in Takt 7 in die Mittelstimme der rechten Hand (Vorhalt dis'') münden. Dieser Vorhalt löst sich im cis'' auf und dieses cis'' wird dann leiser und nicht lauter gespielt.
2. Hinter dem Vorhang erklingt auch das
harmonische Gerüst, der harmonische Verlauf. Auch er sollte untersucht werden. Zum Beispiel, indem du nur die einzelnen Harmonien als Kadenz spielst. Oder indem du eine Harmonie zunächst als Akkord, dann wie notiert spielst und hörst, dass die Harmonie schon durch die ersten drei Achtel gebildet wird, dass sie mit den weiteren Achteln quasi von selbst weiterschwingt. Die Achtel klingen zu einzeln aus meiner Sicht, natürlich haben auch sie eine melodische Linie, vor allem mit den Vorhalten, aber sie kommen aus dem Ganzen, sie bilden ein Ganzes.
3. Die Harmonien färben aber auch die Melodie (
vertikales Hören). Es hilft, sich mal im Zeitlupentempo einen Takt vorzunehmen und zu hören, wie ein langer Melodieton durch verschiedene begleitende Achtel immer wieder anders klingt. Es ist ein feiner und tiefgründiger immerwährender Dialog der Farben und Töne.
4.
Takt/Metrum: Ich bin mir nicht sicher, ob du wirklich alla breve oder doch Viertel denkst. Der Alla Breve führt auf jeden Fall auch dazu, die Achtel nicht einzeln, sondern im Fluss zu denken und zu hören.
5. Es gibt noch viele andere Parameter wie Dynamik, Artikulation, Tempo ... . Es lohnt sich, nach dem Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit (Gerhard Mantel) den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit immer nur auf ein Element, auf einen Parameter zu richten und so das Stück von allen möglichen und möglichst vielfältigen Seiten zu erfahren. Sie vereinen sich später und führen dazu, dass du dir sicherer bist in deinen Entscheidungen und deiner Interpretation. Du hast auch viel mehr Möglichkeiten.
Ich habe mich noch einmal in die Diskussion eingeklinkt, weil ich es schade finden würde, wenn du dich "nur" auf die harmonischen Färbungen konzentrieren würdest. Ich meine, du kannst an diesem Stück deine Fähigkeit, intensiver zu hören, sehr gut schulen. Es würde sich sehr lohnen, denn du bringst schon viel mit!
Liebe Grüße
chiarina