Ultrachromatik

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Ijon Tichy

Guest
Hallo,

vor einiger Zeit stieß ich auf den Komponisten Iwan Wyschnegradsky, einen russischen Avantgardisten und Ultrachromatiker.



Die Begrifflichkeit der Ultrachromatik, obgleich ich natürlich wusste, dass unsere Halbtöne nicht das Ende der Fahnenstange sind, war mir bis dato noch nicht begegnet, und leider lässt sich aus den meisten Internetquellen nicht viel dazu erarbeiten.

Ich bin also auf der Suche nach historischem (politischem? soziologischem?) Kontext der Ultrachromatik, nach - neben Wyschnegradsky - bedeutenden Anwendern dieser Methoden sowie nach deren Werken.

Könnt Ihr mir helfen? Besitzt oder kennt Ihr empfehlenswerte Literatur zu diesem Kapitel der russischen Avantgarde?


Liebe Grüße.
 
Also, auch wenn man mir Banausenhaftigkeit vorwerfen wird: Die in obigem Youtube-Video zu hörende Musik nervt mich ziemlich, und mir scheint, daß Wyschnegradsky zu Recht vergessen ist, weil er es nicht geschafft hat, in seiner Arbeit Kopf und Herz zu verbinden. Naja, gut, solche Typen sind nicht unwichtig, weil sie durch ihre Experimente den Weg bahnen können, daß sich wirkliche Vollblutmusiker der Neuerungen annehmen können.

Viiiiiel bessere Vierteltonmusik, die nämlich auch echt Spaß macht und gleichzeitig vor Virtuosität strotzt, spielen z.B. heute Nils Wogram und Hayden Chisholm:

On 52nd 1/4 Street: Nils Wogram & Root 70: Amazon.de: MP3-Downloads

LG,
Hasenbein
 
Hallo,

ein anderer Komponist, der mit im Vierteltonabstand gestimmten Flügeln experimentierte und sich sogar einen Vierteltonflügel bauen ließ, war Alois Haba.
Sehr gut, das eröffnet mir gleich eine Reihe weiterer Namen. Vielen Dank!


in seinen theoretischen Schriften hat sich auch Ferrucio Busoni mit dieser Thematik befasst.
Kannst Du ein konkretes Beispiel anführen?


Vielen Dank dafür. Das erinnert mich stilistisch sehr an den Jazz Helge Schneiders.


Das sei aber einmal dahingestellt, finde ich. Die Musik Nils Wograms und Hayden Chisholms ist so verschieden zu der Wyschnegradskys, dass ein solcher Vergleich - in meinen Augen - gar nicht lohnt. Sie bedient wohl sicherlich, und das zurecht, einen anderen Anspruch.


Vielen Dank und liebe Grüße.


P.S. Hallo? Ein Notfall!
 
vielleicht wird sich demnächst in der Innsbrucker Unibiblio oder in der Seminarbiblio auch das finden lassen:
Martina Weindel: Ferruccio Busonis Ästhetik in seinen Briefen und Schriften (= Veröffentlichungen zur Musikforschung, Bd. 18 )
 
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Hallo,

zufällig war ich im März diesen Jahres in einem spannenden Konzert unter dem Titel "Mikrotonales und Vierteltöniges".
Hier der Link zum Programm - das ergibt weitere Namen. http://www.tonhalle.de/?q=das_konzert&id=8886318
Es beschäftigen sich nach wie vor Komponisten damit ...
Nach Literatur würde ich mal unter dem Begriff "Mikrotonalität" suchen - da gibt es einiges. Ein guter Einstieg für die Suche ist die Virtuelle Fachbibliothek Musikwissenschaft ViFaMusik: Willkommen in der Virtuellen Fachbibliothek Musikwissenschaft

Viele Grüße,
Dilettantja
 
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Hallo, Ijon!

Zu Deinen Fragen: Wyschnegradsky kommt aus dem Umfeld der Skrjabinisten,
bei denen Panchromatik, also der Umgang mit Zwölftonfeldern, zum Berufsalltag gehörte.

Die Skrjabinisten, zu denen auch noch Obuchov, Roslawetz, Lourié (der frühe zumindest),
Golycheff, Wladimir Vogel und Joseph Schillinger gehörten, waren vorallem mit zwei Dingen
beschäftigt: einer quasi-seriellen Organisation ihres Ausgangsmaterials, d.h. unabhängig
von Hauer und Schönberg mit reihentechnischen Fragen, oder aber mit anderen Oktavteilungen.

Zur Vierteltönigkeit kamen unabhängig voneinander Wyschnegradsky, der Tscheche Alois Haba
und der Amerikaner Charles Ives. Letzterer erreichte die schnelle Spielbarkeit seiner
Vierteltonmusik durch einen simplen Trick: Er komponierte sie als Stücke für zwei Klaviere,
deren Stimmung um einen Viertelton differerierte, wohingegen sich Wyschnegradsky und Haba
Vierteltoninstrumente bauen ließen.

Die Vierteltönigkeit ist gewöhnungsbedürftig. Es braucht eine lange Zeit des Einhörens,
bis man die tonale Differenzierung als solche erlebt und den Eindruck, das Klavier sei
einfach nur grauenhaft verstimmt, loswird.

HG, Gomez

,
 
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Hallo,


Größten Dank für die beiden hilfreichen Links. Besonders der zur ViFaMusik kommt mir sehr gelegen!


Zu Deinen Fragen: Wyschnegradsky kommt aus dem Umfeld der Skrjabinisten,
bei denen Panchromatik, also der Umgang mit Zwölftonfeldern, zum Berufsalltag gehörte.

Die Skrjabinisten, zu denen auch noch Obuchov, Roslawetz, Lourié (der frühe zumindest),
Golycheff, Wladimir Vogel und Joseph Schillinger gehörten, waren vorallem mit zwei Dingen
beschäftigt: einer quasi-seriellen Organisation ihres Ausgangsmaterials, d.h. unabhängig
von Hauer und Schönberg mit reihentechnischen Fragen, oder aber mit anderen Oktavteilungen.

Zur Vierteltönigkeit kamen unabhängig voneinander Wyschnegradsky, der Tscheche Alois Haba
und der Amerikaner Charles Ives. Letzterer erreichte die schnelle Spielbarkeit seiner
Vierteltonmusik durch einen simplen Trick: Er komponierte sie als Stücke für zwei Klaviere,
deren Stimmung um einen Viertelton differerierte, wohingegen sich Wyschnegradsky und Haba
Vierteltoninstrumente bauen ließen.

Das hilft mir bereits sehr weiter. Bin schon dabei, mir ein Namensverzeichnis anzulegen. Vielen Dank. :)


Liebe Grüße!
 

Literaturempfehlungen:

Alexander Skrjabin und die Skrjabinisten 1, Edition Text+Kritik, Heft 32/33

Alexander Skrjabin und die Skrjabinisten 2, Edition Text+Kritik, Heft 37/38

Marina Lobanova: Nikolaj Andreevič Roslavec und die Kultur seiner Zeit. Frankfurt am Main, 1997

Detlef Gojowy: Neue sowjetische Musik der 20er Jahre. Laaber-Verlag, 1980

Findest Du in jeder gutsortierten Uni-Bibliothek oder übers ZVAB.


Du fragst nach dem politischen und soziologischen Hintergrund dieser Musik.
Es ist schwierig, das in ein paar wenigen Worten zu umreißen. Den Skrjabinisten,
also den "Neutönern" in der frühen Sowjetunion, erging es nicht anders
als den konstruktivistischen Malern und den futuristischen bzw. formalistischen Schriftstellern:
Es gab eine kurze Phase des Honigmonds zwischen Künstlern und Staatsführung.
Die Künstler begeisterten sich für die Revolution, und die Revolutionäre ließen sie gewähren.
Die Künstler empfanden ihre neuartigen Ausdrucksmittel als Äquivalent zu den
historischen Ereignissen, und bei den Bolschewiki gab es Sympathisanten -
wie Anatoli Lunatscharsky, ohne dessen Rückhalt die Avantgarde
viel früher zurückgedrängt worden wäre.

Denn sie wurde zurückgedrängt und bekämpft, von "proletarischen" Künstlervereinigungen,
hinter denen oft nicht mehr als halbgebildete Dilettanten steckten. Aber es ist wie anderorten auch:
Der Halbgebildete attackiert aufgrund seiner vollkommen berechtigten Inferioritätsgefühle
den professionellen Künstler, und wenn das auf der Sachebene vorhersehbar nicht gelingt,
macht er weiter mit persönlichen Angriffen, Provokationen etc. So wurden die Avantgardisten
allesamt mundtot gemacht, in die Emigration getrieben, künstlerisch gebrochen, verhaftet
und ermordet. Die GPU stand hinter diesen proletarischen Aktivistenverbänden, und in den
frühen 30er Jahren, als Stalin seine Herrschaft gefestigt hatte, wurde künstlerisches Experiment
jedweder Art als "formalistisch" gebrandmarkt und der "sozialistische Realismus" künstlerische Staatsdoktrin.

Soziologisch? Man hat all diesen Künstlern vorgeworfen, daß sie bourgeois seien,
was natürlich stimmt. Sie waren allesamt Vertreter der "bürgerlichen Intelligenz",
was sich nach Lust und Laune in einen Anklagepunkt verwandeln ließ.
Unter ihren Gegnern - soviel als Pointe - waren aber auch kaum echte Proletarier von der Werkbank,
sondern ebenfalls Bürgerliche, nur eben minderbegabt oder mit einem schlechten Geschmack
gesegnet: entfesselte Kleinbürger - nicht anders als der Bodensatz der Nationalsozialisten.

.
 
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Nachtrag: Wenn Du russische Namen in die Suchmaschine schmeißt
oder danach in Bibliographien etc. suchst: Es wimmelt von unterschiedlichen
Transliterationen der im Original in kyrillischer Schrift geschriebenen Namen.
Es gibt die kuriosesten (Misch-)Varianten, die damit zusammenhängen,
daß uns viele Künstlernamen in französischer oder anglo-amerikanischer Schreibweise
vertraut sind. Zur Not muß man es in allen denkbaren Varianten versuchen.
 
Lieber Gomez,

Du öffnest mir genau die Türen, nach denen ich suche. Ich danke Dir sehr.
Durch eine Ausstellung, die ich demletzt durch Zufall besuchte, wurde ich auf die sowjetische Revolutionskultur aufmerksam; eine Thematik, zu der ich bisher keinen rechten Einstieg finden konnte, weil ich nicht wusste, wo ich ansetzen sollte, daher bin ich Dir umso dankbarer für Deine Empfehlungen und Ausführungen.


Liebe Grüße!
 
Nachtrag: Wenn Du russische Namen in die Suchmaschine schmeißt
oder danach in Bibliographien etc. suchst: (...) Zur Not muß man es in allen denkbaren Varianten versuchen.

Sehr wichtiger Hinweis! hilfreich ist hier auch die Personennormdatei des deutschen Musikarchivs. Die (meisten) deutschen Bibliotheken haben sich auf eine Schreibweise geeinigt, in der Personennormdatei (PND) der Deutschen Bibliothek und des Deutschen Musikarchivs wird die Schreibweise festgelegt und alle aus bibliographierten Titeln ermittelte Schreibweisen werden in einer Liste aufgeführt. So viel Fantasie kann man selbst kaum entwickeln!
Und so kommt man an die PND: über DNB, Deutsche Nationalbibliothek - Home auf die Seite der Deutschen Nationalbibliothek gehen, dort über "Kataloge und Sammlungen" das "Deutsche Musikarchiv" aufsuchen, hier unter Kataloge "Katalog des DMA ab 1976" auswählen, unter Suche die Auswahl "Personennormdatei PND" treffen und dann den Suchbegriff in den Suchschlitz eingeben.

Dilettantja
 

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