Was ist "virtuos"?

hyp408

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Ich kann mit dem Wort wenig anfangen. Es wird ja bei manchen Hochschulen ein "virtuoses" Werk in der Aufnahmeprüfung verlangt … Ist z.B. der 4.Satz (Prestissimo) in der F-Moll Sonate von Beethoven (Op.2 Nr. 1)schon virtuos?
Wo geht's los, wer bestimmt was virtuos ist? Ist es "Die Wut über den verlorenen Groschen" oder geht's bei Diabelli und La Campanella erst richtig los??? Gibt es eine allgemeingültige Definition für "virtuos"?

Grüße
Hyp
 
Ich würde behaupten, dass man auch einfachere Stücke virtuos vortragen kann.
 
Ich würde mit der Semantik des Worts selbst beginnen, und da kann man ja faul sein und ein wissenschaftlich anerkanntes Wörterbuch wie das DWDS bemühen:

"vollkommen in der Beherrschung einer bestimmten (künstlerischen) Technik, glänzend, meisterhaft"

Leider ist die etymologische Herleitung dort nur formal richtig ("eigentlich ‘Mannhaftigkeit’; zu lat. vir ‘Mann, Gatte"), verfehlt aber den semantischen Kern, nämlich dass das Wort virtus schon im 1. Jh. v. Chr.unter dem Einfluß des abstrakten griechischen Begriffs aristía, "Optimum an Leistungsfähigkeit", umgedeutet wird und damit seine heutige Bedeutung erhält.

Ein virtuoses Stück wäre demnach eines, dass beim Künstler ein Optimum an technischer und expressiver Leistungsfähigkeit voraussetzt.

Ich wäre nun überrascht, wenn es einen Konsens darüber gäbe, welche konkreten Teile der Literatur unter dieses Begriff fallen. Ich denke, es gibt gewisse Tendenzen, wie sie sich etwa in den Henle-Skalen ausdrücken, aber bestimmt nichts "amtliches". Oder irre ich da?
 
Zuletzt bearbeitet:
Gibt es eine allgemeingültige Definition für "virtuos"?

Hyp

Das Adjektiv "virtuos" bedeutet das, was Ambros zitiert hat. Für "virtuoses Stück" sieht es schon schwieriger aus, weil da die Meinungen auseinander gehen, ab wann ein Stück "virtuos" ist.

Meist ist damit ein bestimmter technischer (manueller) Mindest-Schwierigkeitsgrad gemeint oder zumindest ein bestimmter Grundgestus eines Musikstücks (z.B. viele schnelle Läufe, oder schnelles Grundtempo, d.h. viele Töne in kurzer Zeit).

Es wird ja bei manchen Hochschulen ein "virtuoses" Werk in der Aufnahmeprüfung verlangt …
Hyp

Welche Art Aufnahmeprüfung denn?

Bezüglich Bewerbungen Klavier Hauptfach wissen die Bewerber bzw. deren Lehrer quasi automatisch, welche Mindest-Anforderungen ein Stück erfüllen muss, um als "virtuos genug" zu gelten.

Meist fischen die Bewerber aus immer dem gleichen "Pool" an Stücken, die üblicherweise bei einer Aufnahmeprüfung an Hochschulen gespielt werden. Wenn man sich da bei den Programmen der Bewerber umschaut, bekommt man da einen ganz guten Überblick.

Sollte man mit einem selten gespielten. exotischen Stück liebäugeln, wird man sich eher fragen, ob dieses Stück denn mit den "üblichen" Stücken vom Schwierigkeitsgrad vergleichbar ist.

Es wird ja bei manchen Hochschulen ein "virtuoses" Werk in der Aufnahmeprüfung verlangt …
Wo geht's los, wer bestimmt was virtuos ist?
Hyp

Bei Aufnahmeprüfungen und Wettbewerben legen das die Unis/Professoren bzw. Veranstalter/Juroren fest.

Es wird ja bei manchen Hochschulen ein "virtuoses" Werk in der Aufnahmeprüfung verlangt … Ist z.B. der 4.Satz (Prestissimo) in der F-Moll Sonate von Beethoven (Op.2 Nr. 1)schon virtuos?
Wo geht's los, wer bestimmt was virtuos ist? Ist es "Die Wut über den verlorenen Groschen" oder geht's bei Diabelli und La Campanella erst richtig los??? Gibt es eine allgemeingültige Definition für "virtuos"?
Hyp

Für eine Aufnahmeprüfung im Hauptfach Klavier wäre die Beethoven Sonate op. 2 Nr. 1 wohl zu leicht, wenn auch nicht verboten. Einzelne Sätze darfst du da meist sowieso nicht zur Auswahl stellen, sondern musst sie komplett beherrschen. Auswählen tut die Prüfungskommission.

Wenn du allerdings z.B. Mozart KV 330 oder eine vergleichbare Haydn-Sonate spielen würdest, wäre das dagegen okay, auch wenn Beethoven op. 2/1 manuell gesehen nicht leichter ist. Das Pech der op. 2/1 ist eben, dass sie als "leichte Beethoven-Sonate" gilt.

Wo geht's los, wer bestimmt was virtuos ist? Ist es "Die Wut über den verlorenen Groschen" oder geht's bei Diabelli und La Campanella erst richtig los??? Gibt es eine allgemeingültige Definition für "virtuos"?
Hyp

Die Campanella gilt auf jeden Fall als "virtuos". Wenn man die "Wut über den verlorenen Groschen" im Tempo von Kissin spielt, auf jeden Fall auch.

"Beides Virtuos" ist übrigens nicht gleichbedeutend mit "gleicher Schwierigkeitsgrad. Die Campanella ist technisch deutlich schwerer als der Groschen.
 
Sehr gut erklärt, vielen Dank!
 
Oder koaz unn knaggisch: Schnell und laut. :005:
 
Ich denke mal, wenn die ein virtuoses Stück verlangen, reicht da nicht Op 2 Nr. 1 und auch nicht Op.13. Ich denke, was Beethoven betrifft, wären da am ehesten Op.53 und 57 geeignet. Die haben es aber in sich und sind meiner Meinung nach heikel.

Die Klassiker wären da wohl:

- Chopin Ballade 1-4
- Chopin Scherzi, besonders h-Moll und b-Moll sind beliebt oder auch Fantasie f-Moll
- Diverser Kram von Liszt, allermindestens Funerailles vom Schwierigkeitsgrad, besser z.B. Venezia e Napoli, Ungarische Rhapsodie Nr. 11, 12, 15...
- Mendelssohn Variation serieuses, eventuell noch Rondo capriccioso
- Schumann Abegg-Variationen, vielleicht Allegro h-Moll
- diverses impressionistisches Zeugs, Feu d'artifice von Debussy etc.

Ein romantisches Stück, was z.B. auf der Seite bei Henle allermindestens Schwierigkeitsgrad 7, besser 8 oder bei diesem Handbuch der Klavierliteratur (mir fällt der Name nicht ein) so mindestens 12 hat, geht da meist in die richtige Richtung. Am besten noch mit ausreichendem musikalischem Gehalt und nicht zu einseitigem Schwierigkeitsgrad, also nicht nur. z.B. Oktaven oder nur Arpeggien.
So eine Chopin-Ballade Nr. 1 z.B. ist da eigentlich schon perfekt. Die ist schwer, vielseitig, musikalisch gehaltvoll, aber auch nicht technisch zu extrem wie eine Liszt-Opernfantasie oder ähnliches.
 
Zur Virtuosität gehört essentiell, dass man die halsbrecherische Schwierigkeit des Stückes auch hört und sieht!
In diesem Sinne sind Schuberts späte A-Dur Sonate oder Godowskis Passacaglia nicht virtuos, wohl aber die Toccata von Khatschaturian!?
 

Zur Virtuosität gehört essentiell, dass man die halsbrecherische Schwierigkeit des Stückes auch hört und sieht!
In diesem Sinne sind Schuberts späte A-Dur Sonate oder Godowskis Passacaglia nicht virtuos, wohl aber die Toccata von Khatschaturian!?

Schubert ist meiner Meinung nach ganz heikles Zeugs. Würde ich niemals in einer Aufnahmeprüfung spielen, wenn ich eine machen wollte. Und schon gar nicht eine der letzten drei Sonaten. Und wie du richtig sagst, unter virtuos versteht man etwas anderes, auch wenn das Zeugs von Schubert im Endeffekt auch technisch sauschwer ist.
Aber bei der Passacaglia von Godowsky sieht und hört man doch, dass die sauschwer ist, auch wenn die nicht so exhibitionistisch dahingehend ist wie eine Don-Giovanni-Fantasie von Liszt, diverse Sachen von Alkan oder eine Islamey etc.
Die ist aber denke ich auch völlig übertrieben vom Schwierigkeitsgrad her.
 
Ich denke, mit einem der beliebten und viel gespielten Liszt-Klassiker (Rigoletto-Paraphrase, Jeux d'eau, Mephistowalzer, Orage, Dante-Sonate etc.) kann man in einer AP wenig falsch machen. Wenn man die Sachen wirklich kann, versteht sich.

Wenn es nicht für's Konzertfach an einer Top-Hochschule ist, geht es natürlich auch etwas kleiner - da bieten sich Sachen wie Au bord d'une source, Ravel-Sonatine, Abegg-Variationen, Brahms op. 21 und vieles mehr an.
 
Zur Virtuosität gehört essentiell, dass man die halsbrecherische Schwierigkeit des Stückes auch hört und sieht!
In diesem Sinne sind Schuberts späte A-Dur Sonate oder Godowskis Passacaglia nicht virtuos, wohl aber die Toccata von Khatschaturian!?
@Alter Tastendrücker ...eher die Toccata von Schumann, nicht das relativ harmlose Stück von Chatschaturjan (das rein spieltechnisch einfacher als jedes Chopinscherzo ist)
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Mir scheint, dass in der Eingangsfrage (absichtlich oder unbewusst?) sehr primär deutsche Wertungen aus der Hanslick-Ästhetik bzw aus deren Nachfolge bis in Wertmuster der 70er Jahre mitschwingen: eine misstrauische Abwertung von Spielfreude, Motorik und überbordender Virtuosität war und ist der span., franz., russ. Musikkritik fremd. Den negativen Beigeschmack, der in deutschen Rezensionen etwa den Lisztschen Opernbearbeitungen angedichtet wird, kennen unsere Nachbarn nicht.

Des weiteren ist die Reduktion von "virtuos", egal ob abwertend oder bewundernd, allein auf Klaviersachen ebenso absurd wie dumm. Denn niemand kommt auf die dämliche Idee, halsbrecherisch virtuose Arien (Norma, La Traviata, Walküre, Turandot usw) abzuwerten, oder Violincapricen von Paganini, eine aberwitzig tumultuöse Berliozsinfonie, einen Walkürenritt, eine Falstaffuge, ein fetziges dies irae (Verdi), Violinkonzerte von Bruch und Sibelius, Czardas und Donnerblitzpolka (Fledermaus) usw als unseriös weil virtuos zu verdammen. Und die genannten Beispiele sind hochvirtuose Sachen!! Da wird mit Effekten und Affekten nicht gegeizt - und das ist gut so, denn Frau Musica muss nicht permanent im härenen Bettelordengewand umherschleichen.
 
eher die Toccata von Schumann, nicht das relativ harmlose Stück von Chatschaturjan (das rein spieltechnisch einfacher als jedes Chopinscherzo ist)

Ich habe bewusst ein relativ einfaches Stück gewählt, welches dennoch den Eindruck der Virtuosität hinterlässt!
Im Gegensatz zu sehr schweren Stücken, die dies deutlich weniger zeigen!
 
Ich kenne jemanden, der hat - mit großem Erfolg!! - zur Solistenprüfung an einer großen Musikhochschule Beethoven op. 14,2 G-Dur gespielt!
Aber eben auf solistischen Spitzenniveau!
Zur Aufnahmeprüfung oder Abschlussprüfung? Wenn man einmal drin ist, kann man doch machen, was man will :lol: und sicher hat er auch noch andere Stücke gespielt. Vermutlich nicht noch den Children's Corner und Anna Magdalena Bach? :coolguy:
 
eine misstrauische Abwertung von Spielfreude, Motorik und überbordender Virtuosität war und ist der span., franz., russ. Musikkritik fremd. Den negativen Beigeschmack, der in deutschen Rezensionen etwa den Lisztschen Opernbearbeitungen angedichtet wird, kennen unsere Nachbarn nicht.

Ich finde auch unsinnig, die überbordende Virtuosität zu kritisieren. Nur haben viele Stücke, die sehr virtuos sind, auch noch anderes zu bieten (Beethoven Op. 106, Wandererfantasie, Sonate h-Moll, Gaspard de la nuit...), während anderer Kompositionen fast nur die Virtuosität zu bieten haben und musikalisch ansonsten eher durchschnittlich sind (Islamey, Paganini Capricen...)

Ich würde auch schon die Opernfantasien von Liszt nicht auf dem Niveau der h-Moll Sonate sehen.
Sollen sie auch nicht sein, geht halt ein wenig in Richtung U-Musik. Das aber sehr gut. So überrascht es z.B. auch nicht, dass die einzige Aufnahme von Lang Lang, die ich wirklich gut finde, die Don-Giovanni-Fantasie ist.
 
auch nicht, dass die einzige Aufnahme von Lang Lang, die ich wirklich gut finde, die Don-Giovanni-Fantasie ist.

Gerade die fand ich ganz besonders scheußlich, weil vor lauter Krach und Raserei die Oper völlig verloren ging.
Ich habe extra die etwas durchsichtiger Busoni Fassung gespielt, um mehr Leichtigkeit zu erzielen!
Ich mochte in diesem Carnegie Hall Recital nur die witzig und brillant gespielte Haydn Sonate! Und auch die Abegg Variationen waren nicht schlecht! Aber die Wanderer Fantasie und Don Juan megaunerträglich!!!
 

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