Voraushören und Motorik

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Bernhard Hiller

Bernhard Hiller

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Eckart Altenmüller schriebt in "Vom Neandertal in die Philharmonie" auf S. 264:

Und immer präziser „hört“ man auch die erwarteten Effekte der Handlung, nämlich Tonhöhen, Klangfarben und Brillanz der Fingerpassagen, voraus. Das führt zu einem interessanten Effekt: Musiker berichten oft von dem Eindruck, sie hörten einen Klang voraus und ihre Finger würden fast automatisch an die richtige Stelle auf dem Griffbrett oder der Tastatur „gezogen“.​

Daß ich das, was ich gerade zu spielen vorhabe, voraushöre, kommt im Laufe des Übens. Zumindest auf Ebene von Melodie und Rhythmus, wenn auch nicht so recht von Klangfarben und Brillanz. Daß die Finger vom vorausgehörten Tone quasi "gezogen" würden, ist mir noch nicht untergekommen.

Wie ist es bei euch? Wie könnt ihr euch in Altenmüllers Darstellung wiederfinden? Und: wie hat sich das ggf. im Laufe eures Lernens geändert?
 
Eckart Altenmüller schriebt in "Vom Neandertal in die Philharmonie" auf S. 264:

Und immer präziser „hört“ man auch die erwarteten Effekte der Handlung, nämlich Tonhöhen, Klangfarben und Brillanz der Fingerpassagen, voraus. Das führt zu einem interessanten Effekt: Musiker berichten oft von dem Eindruck, sie hörten einen Klang voraus und ihre Finger würden fast automatisch an die richtige Stelle auf dem Griffbrett oder der Tastatur „gezogen“.​

Daß ich das, was ich gerade zu spielen vorhabe, voraushöre, kommt im Laufe des Übens. Zumindest auf Ebene von Melodie und Rhythmus, wenn auch nicht so recht von Klangfarben und Brillanz. Daß die Finger vom vorausgehörten Tone quasi "gezogen" würden, ist mir noch nicht untergekommen.

Wie ist es bei euch? Wie könnt ihr euch in Altenmüllers Darstellung wiederfinden? Und: wie hat sich das ggf. im Laufe eures Lernens geändert?
Kenne ich und erstaunt mich immer wieder.
 
Das kenne ich auch, und ich glaube das muss so sein. Kann ein Spiel lebendig sein, wenn es nicht von einer Vorstellung angetrieben wird?
 
Die direkte Verbindung zwischen Klangvorstellung und motorischer Umsetzung wird mit der Zeit immer unmittelbarer und dichter. Das führt z.B. auch dazu, dass Pianisten unwillkürlich Töne hören, wenn sie auch nur gerade am entferntesten an Musik denken und dazu die Finger bewegen. Mit der Erfahrung weiß man irgendwann, welche Bewegung welchen Klang erzeugt, und die Finger führen es aus, ohne dass ich mir irgendwelche konkreten Bewegungen dazu überlege. Das ist normal, gewünscht und alltäglich - sonst könnten wir alle nämlich nicht schreiben...
 
Die direkte Verbindung zwischen Klangvorstellung und motorischer Umsetzung wird mit der Zeit immer unmittelbarer und dichter. (...) Mit der Erfahrung weiß man irgendwann, welche Bewegung welchen Klang erzeugt, und die Finger führen es aus, ohne dass ich mir irgendwelche konkreten Bewegungen dazu überlege. Das ist normal, gewünscht und alltäglich - sonst könnten wir alle nämlich nicht schreiben...
Nennt sich dann auch "Technik" beim Klavierspiel. Erwirbt man sich mit der Zeit, durch Üben.
 
Bei allem Respekt für Herrn Altenmüller - das, was beim in zweckmäßiger Weise erfolgenden, audiomotorischen und genuin musikalischen Spiel passiert, ist NICHT Voraushören.

Sondern der Akt der Klangwillens-Bildung ist sozusagen EINS mit der Bewegungsaktion. Da sind nicht zwei zeitlich oder sonstwie als getrennt empfundene Aktionen (erst voraushören und daraufhin etwas machen).

Für die, die sich evtl. nicht so richtig vorstellen können, was ich meine, vielleicht als prägnantes Beispiel: Ein Improvisator (z.B. Jazz), der was kann, kann problemlos seine improvisierten Linien parallel mitsingen, und das Spielgefühl ist weder "ich spiele und singe dazu mit" noch "ich singe und spiele dazu mit", sondern es ist eine einheitliche Aktion, ohne jedes "Davor-Danach" oder irgendeine Priorität.

Man muss beim Spielen immer im JETZT sein - jedes Voraushören oder auch "Nachhören" dessen, was man eben gespielt hat, zerreißt unweigerlich den Spielfluss. "Flow" (in dem Sinne wie Csíkszentmihályi den Begriff popularisiert hat) beim Spielen bedeutet, dass nicht vorausgehört oder nachgehört wird, sondern dass man einfach bei dem ist, was jetzt passiert - so wie ein Extremkletterer in das Jetzt gezwungen wird, weil er sonst in Lebensgefahr gerät.

"Voraushören" ist lediglich etwas, was im Übeprozess in einem bestimmten Stadium sehr sinnvoll sein kann, um sich sicher auf das audiomotorische Gleis zu begeben.
 
Gefällt mir sehr gut...!!

Hinzufügen möchte ich noch: natürlich muß oder soll man sowas wie eine generelle, "offline"-Klangvorstellung von seinem Stück haben, oder sich zumindest eine zügig erwerben.

Umsetzen tut man sie dann aber in der beschriebenen Weise im Hier und Jetzt.
 
Bei mir kann es passieren, dass ich etwas mit komplett anderem (neuem) Fingersatz oder - woanders als am Klavier - in anderen Registern (=Lagen, was natürlich auch einen anderen Fingersatz bedingt) spiele.
Ich spiele ja nicht die Tasten oder die Töne, sondern die Musik.
 
der Akt der Klangwillens-Bildung ist sozusagen EINS mit der Bewegungsaktion.

Ich vermute, er meint dasselbe und nutzt nur nicht den (wie ich finde besseren*) Begriff des Klangwillens.


* P.S. Unter "Klangwillen" kann ich mir sofort vorstellen was intendiert ist. Mit dem Begriff "Voraushören" hätte ich meine Probleme, dieser Begriff würde mich eher verwirren als erhellen. Bei anderen mag es anders sein. :konfus:
 
Unter "Klangwillen" kann ich mir sofort vorstellen was intendiert ist. Mit dem Begriff "Voraushören" hätte ich meine Probleme, dieser Begriff würde mich eher verwirren als erhellen.
Hm, mir geht's andersrum: wenn ich im Konzert Zuhörer bin, höre ich ja auch bereits die nächsten Töne (wenn mir das Werk soweit bekannt oder einleuchtend ist). Eine Möglichkeit, diesen "Klangwillen" umzusetzen, habe ich da aber nicht. Und dieses "Voraushören" kenne ich ebenso vom eigenen aktiven Musizieren.
Womöglich gibt es da noch eine Differenzierung, welche ich (noch) nicht erreicht habe?
 
Ich bin zwar noch Anfängerin aber ich bin da ganz bei @hasenbein. Ich glaube nicht, dass du im Konzert voraushörst sondern du weißt schlicht und einfach was als nächstes kommt, weil du das Stück kennst.;-)
 

Würde ich ganz genauso ausdrücken.
 
Natürlich ist man IMSTANDE vorauszuhören, und man tut es auch oft genug.

Aber es ist ein beim Spielen (nicht immer beim Üben!) unzweckmäßiges Verhalten, wie ich oben erläutert habe. Genauso wie z.B. sich während des Spielens selber zu kritisieren. Dass das passiert, dagegen können die meisten gar nichts machen, aber es ist wichtig für den Fortschritt als Spieler, zu wissen, dass es abträglich ist und dass man (wodurch auch immer) alles tut, um es immer weiter zu reduzieren.
 
Genauso wie z.B. sich während des Spielens selber zu kritisieren. Dass das passiert, dagegen können die meisten gar nichts machen
Was meinst Du damit? Sich selber in sein eigenes Spiel reinquasseln so etwa "Mist, das hab' ich jetzt verhauen" - "blabla" - "Grummel"

Ja, das wär' in der Tat wenig hilfreich.

____
p.s. bei Gould war das wohl etwas anderes. Wenn ich mich recht entsinne, summte er deswegen gern zu seinem Spiel, weil es ihn in der Konzentration auf die Musik bestärkte
 
Eckart Altenmüller schrieb: ....Musiker berichten oft von dem Eindruck, sie hörten einen Klang voraus und ihre Finger würden fast automatisch an die richtige Stelle auf dem Griffbrett oder der Tastatur „gezogen“.

Sondern der Akt der Klangwillens-Bildung ist sozusagen EINS mit der Bewegungsaktion. Da sind nicht zwei zeitlich oder sonstwie als getrennt empfundene Aktionen (erst voraushören und daraufhin etwas machen).

Lieber hasenbein,

was du schreibst, ist außerordentlich wichtig! Altenmüller hat das Voraushören, von dem er spricht, allerdings nicht selbst postuliert, sondern den Eindruck von Musikern wiedergegeben.

Man muss beim Spielen immer im JETZT sein - jedes Voraushören oder auch "Nachhören" dessen, was man eben gespielt hat, zerreißt unweigerlich den Spielfluss.

Was ich mich frage, ist, was das "JETZT" ist. Und ob nicht doch der Eindruck der von Altenmüller befragten Musiker mit dir übereinstimmen könnte.

Ist "JETZT" nur der gerade gespielte Ton, also vielleicht eine 100stel Sekunde oder schließt das "JETZT" auch den Zusammenhang mit ein, ganz besonders die Verbindung zum nächsten Ton?!

Ich glaube, dass das eine nicht ohne das andere geht. Denn der gerade gespielte Ton muss einerseits in aller Wachheit und Aufmerksamkeit wahrgenommen werden, in Klangfarbe, Dynamik, Timing mit den entsprechenden Emotionen gehört und gefühlt werden inkl. der zur Klangerzeugung nötigen Bewegungen. Wenn dieses "JETZT" nicht so intensiv wie nur möglich wahrgenommen wird und stattdessen an der Oberfläche bleibt, wird auch unser Spiel an der Oberfläche bleiben.

Andererseits bestimmt das gerade Wahrgenommene den nächsten Ton und die zukünftige Entwicklung. Wir nehmen Töne nicht isoliert wahr, sondern in Zusammenhängen. Ich kann nicht einen Ton hören und danach erst das aufsteigende Intervall einer Sexte hören (z.B.), sondern der erste Ton trägt die Verbindung zum nächsten und den durchschrittenen Klangraum (Sexte) schon in sich. Gleichzeitig muss ich aber unbedingt den ersten Ton genau wahrnehmen, da sonst der zweite Ton isoliert da stünde. Das eine bedingt das andere.

Bei mir läuft das irgendwie auf mehreren Ebenen ab. Es gibt nicht nur eine Ebene beim Musizieren. Ich nehme vorrangig den gerade gespielten Klang wahr. Gleichzeitig weiß ich aber, in welchem Kontext dieser Klang steht und höre auf die Verbindung. Beim Vom-Blatt-Spielen ist das besonders extrem: ich höre auf die Töne, die ich gerade spiele, bin mit den Augen aber schon einen Takt oder so voraus und habe diesen Takt in meiner Klangvorstellung bereits vorausgehört, obwohl ich ihn ja noch gar nicht gespielt habe. Trotzdem nehme ich immer noch den gerade gespielten Klang wahr, sonst könnte ich ja nur unmusikalisch und abgehackt spielen.

Bei Stücken, die man gerade erst auswendig hat, muss man noch teilweise überlegen, was kommt. Und trotzdem kann man im Klang absolut im "JETZT" sein, das läuft auf verschiedenen Ebenen ab.

Vielleicht haben die befragten Musiker also so etwas ähnliches gemeint.

Im Unterricht ist allerdings die Wahrnehmung des "JETZT" extrem wichtig, da es da oft hapert. Sich zuhören können und alle Sinneskanäle offen zu halten ist eines der wichtigsten Dinge überhaupt.

Liebe Grüße

chiarina
 
Was ich mich frage, ist, was das "JETZT" ist. Und ob nicht doch der Eindruck der von Altenmüller befragten Musiker mit dir übereinstimmen könnte.

Ist "JETZT" nur der gerade gespielte Ton, also vielleicht eine 100stel Sekunde oder schließt das "JETZT" auch den Zusammenhang mit ein, ganz besonders die Verbindung zum nächsten Ton?!

So ungefähr denk ich mir das auch. Bevor ich meine Finger, Arme in Bewegung setze muss ein Gedanke/Nervenimpuls/was auch immer vorrauskommen. Eben eine Vorstellung von dem was man tun möchte. Wie bewusst das wahrgenommen wird ist nochmal ein sehr weites anderes Thema, aber die Reihenfolge ist immer Denken – Bewegung.
Herr Altenmüller beschäftigt sich als Mediziner mit den genauen Abläufen im Körper, in diesem Fall dem Gehirn. An unserer Musikschule hat er vor drei Jahren einen sehr launigen Vortrag gehalten und dort unter anderem eine Studie erwähnt, nicht seine, sondern die einer Kollegin. Sie hatte Klavierspieler an einen Gehirnströmemesser angeschlossen und spielen lassen. Dabei konnte sie beobachten, dass die dafür zuständigen Gehirnareale ihre Fehler bereits bemerkten bevor der Ton überhaupt erklang ! Der Bewegungsbefehl konnte aber nicht mehr zurückgenommen werden, sondern wurde ausgeführt. Ich vermute sehr, dass Altenmüller sich in diesen Zeitbereichen bewegt auch wenn er von vorraushören spricht. Für mich ist das mmer noch JETZT.

Ich selber verwende den Begriff häufig beim Unterrichten, bin jetzt allerdings am Überlegen, ob ich meine armen Schüler damit nicht in die Irre führe, da ich damit niemals ganze Takte oder mehrere Töne meine, wie hier auch von einigen angeführt.
Ich unterrichte ja Querflöte, nicht Klavier, und da ist eine exakte Klangvorstellung unerlässlich und die Notwendigkeit auch für Anfänger leicht nachzuvollziehen, da man mit einem Griff verschiedene Tonhöhen erzeugen kann. Wenn der Ansatz und die Luftführung nicht stimmen kommt ein anderer Ton.
 
Wie ich weiter oben schon andeutete: Einfach mal was Gefährliches machen, z. B. im Gebirge kraxeln.

Dann weiß man ganz genau, was mit dem "Jetzt", das ich hier anspreche, bzw. mit dem "im Jetzt sein" gemeint ist.

Keine Notwendigkeit für weiteres Herumanalysieren oder Wortgeklaube.
 
Eben.

Nur weil beim Klavier ein unmotivierter Tastendruck genügt, um einen sauberen Ton zu erzeugen, glauben musikferne Naturen, dass sie ohne eine Vorstellung darüber, was sie eigentlich erreichen wollen, etwas erreichen können.

Bei allen anderen Instrumenten, außer vielleicht Triangel oder Xylophon, muß man den Klang formen, also vorher eine Vorstellung davon haben, wo die Reise hingehen soll.

Edit: Bevor hier das vermeintliche Gegenbeispiel der fellbespannten Schlaginstrumente kommt:
Haut mal auf eine Pauke einfach drauf oder spielt einen Ton.
Wenn ihr das (den Unterschied) hinbekommt, dann dürft ihr zu einem Tasteninstrument wechseln.
 

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