Ich finde, dass das Gleichnis Musik = Sprache, Musiktheorie = Grammatik etwas zu kurz gegriffen ist. Ich wuerde den Vergleich Musik = Realitaet, Ohren = Augen, Musiktheorie = Sprache bevorzugen. Lasst mich dies erklaeren:
Obgleich ich mich nun nicht befaehig sehe Musik allumfassend zu "definieren", wuerde ich doch sagen, dass Musik sehr von Strukturen lebt, welche unser Gehirn/Ohr unterbewusst (sei es durch Konditionierung/Hoererfahrung oder "angeborenes") auch als solche wahrnimmt. Wie bei allen Strukturen ist das entscheidende hier, dass es "Objekte" gibt, und "Beziehungen zwischen den Objekten", welche von unseren Ohren wahrgenommen und von unserem Gehirn kategorisiert und erkannt werden.
Ganz aehnlich ist es mit unserer Realitaet, man laeuft durch die Realitaet, hat Sinnesreize, und unser Gehirn kategorisiert diese Sinnesreize. Sieht es z.B. einen Baum erkennt es diesen, schaut es genauer hin, kann es zwischen Nadel- und Laubbaum unterscheiden, und wenn ein Eichhoernchen angerannt kommt, extrapoliert es, wie das Eichhoernchen den Baum hochkrabbelt.
In der Musik ist es nun aehnlich, hoere ich z.B. in einer klassischen Sonate einen dominantischen Akkord, erkenne ich, dass diese dominantisch ist, an dem Gefuehl, welcher dieser in mir ausloest. Hoere ich genauer hin, kann ich unterscheiden ob es ein Dominantseptakkord ist, oder ein Dominantseptnonakkord. Und wenn davor eine Subdominante mit sixte ajoutee angerannt kommt, extrapoliert mein Gehoer, dass es sich wohl nun gleich in einen Dominantakkord umwandelt, und sich dieser zur Tonika aufloest.
Das alles laeuft unterbewusst ab und ist natuerlich zunaechst nicht auf Sprache angewiesen um erlebt zu werden. Ich kann ja auch unterbewusst den Unterschied zwischen einem Laubbaum und einem Nadelbaum "erfuehlen" ohne diese Begriffe zu kennen, und mir vorstellen - wenn ich es nur oft genug gesehen habe - dass ein Eichhoernchen auf den Baum hochkrabbelt.
Aber ich persoenlich denke, dass die Versprachlichung musikalischer Sachverhalte einige Vorteile mit sich bringt: Erstens, die Objekte und Beziehungen werden kategorisiert und zweitens ihnen wird eine Wort zugewiesen. Beides hilft meines Erachtens ganz essenteiell dabei, dass man die Strukturen bewusster und eindringlicher wahrnimmt, und sich auch besser merken kann, in einer ganz aehnlichen weise, wie die Welt durch Sprache fassbarer wird (letzteres wohl auch, da Sprache nicht nur die Benennung, sondern auch die Kategorisierung von Objekten umfasst).
Also zusammengefasst: Musiktheorie ist meines Erachtens nicht die "Theorie nach der Musik funktioniert", sondern die Abstrahierung und Kategorisierung wahrgenommener Sinnesreize, ihrer Beziehungen und Strukturen untereinander und deren Benennung. (Die Objekte sind hierbei vielfaeltiger, z.B. melodischer, Rhytmischer, harmonischer, ... Natur und die Beziehungen natuerlich auch). Und steht somit in einer ganz aehnlichen Beziehung zur Musik, wie die Sprache zur Realitaet.
Und nun die Frage: "Muss man sprechen/in Sprache denken koennen um die Realitaet zu begreifen?". Naja, muessen muss man das bestimmt nicht, aber da es die Differenziertheit der Sprache ist, welche den Menschen vom Affen unterscheidet (und die Rolle der Sprache in der Entwicklung des Realitaetbegreifens und -formens unverkennbar ist), wuerde ich sagen: Es ist sicher foerderlich. Und wenn diese Analogie - wie ich hoffentlich eroertern konnte - eine stimmige ist, wuerde ich sagen: Jo! Musiktheorie ist wirklich sehr hilfreich (was ich uebrigens auch an mir begreife. Je mehr Theorie ich begriffen habe, desto besser funktioniert mein Gehoer. Man hoert ja eigentlich alles, aber die Benennung ist das Problem. Wenn ich begriffen habe, welche Harmonieprogressionen es gibt etc. dann hoere ich diese auch, und kann diese benennen.)
LG,
Daniel