Rubato und Klassik

alibiphysiker

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Liebes Forum,

in den letzten Jahren wurde mir von verschiedensten Seiten immer wieder indoktriniert, dass "Rubato" in der Klassik "verboten" sei. Der "Puls" müsse (natürlich innerhalb gewisser Fehlertoleranzen) unabänderlich sein. Begründet wurde dies mit der Aussage, dass "Klassik" nicht "romantisch" klingen dürfe, und ein zu freier Umgang mit Metrum/Tempo/Puls dem Epochencharakteristikum widersprechen würde.

Ich persönlich komme in meinem Spiel davon immer mehr ab: Ich fühle mich einfach wohler, wenn ich (auch und gerade) in der Klassik freier mit zeitlichen Parametern umgehe. Natürlich muss die geschriebene Rhythmik immer erkennbar bleiben und das eingesetzte Rubato muss der Struktur der Musik entsprechen. Gleichzeitig finde ich die obigen skizzierten Aussagen immer problematischer: Wer hat festgelegt, dass ein freier Umgang mit zeitlichen Aspekten ein interpretatorisches Stilmittel ist, welches ausschließlich romantischer Musik vorbehalten ist?

Aus diesem Grund frage ich euch: Woher kommt der weitverbreitete Glaube, dass ein freier Umgang mit zeitlichen Parametern in der "Klassik" nicht angemessen ist? Und woher kommt der Glaube, dass dies in der "Romantik" nun plötzlich ein legitimes Stilmittel ist? Gibt es hierzu Originalquellen aus der "Klassik", welche Informationen zum Umgang mit Rubato beinhalten (von Czerny, oder anderen Zeitgenossen)? ...

Ich habe mir natürlich auch ein paar Gedanken dazu gemacht. Aber bin gerade zu faul, diese hier niederzuschreiben und warte erst einmal eure Antworten ab.
 
Ach komm, selbst im Jazz und Pop ist Rubato sehr wichtig. Wer immer ganz genau "auf dem Beat" spielt oder gar singt, hat es noch nicht wirklich verstanden. Und wer mal Solos berühmter Jazzmusiker transkribiert, weiß, wie schwierig einzelne Stellen immer wieder aufzuschreiben sind - man ahnt, es ist der und der Rhythmus "gemeint", aber der Spieler zieht bespielsweise Töne zeitlich recht stark nach hinten. Erst dieser flexible Umgang bringt wirklichen "Swing" in die Sache.

Und natürlich ist es bei Klassik ganz genauso.

Entscheidend ist nur, dass insbesondere schnellere Sätze mit einem bestimmten "Groove-Gefühl" gespielt werden. Dieses fehlt mäßigen Spielern, die zu sehr auf die Romantik-Schiene gepolt sind bzw. deren Ausbildung, wie es leider im Klassikbereich häufig ist, Defizite im Rhythmusbereich hat, so dass deren Spiel oft, wie Abby Whiteside mal sehr gut beobachtet hat, eine sich zu sehr im Klein-Klein verlierende, letztlich unrhythmische Angelegenheit ohne konsequenten "Zug" bzw. stringent vorwärtstreibende Energie ist, die sich nur mit sehr klarem und ununterbrochenem "basic rhythm" (Whiteside) erreichen lässt. In vielen Romantik-Stücken kommt man mit solchem Gemansche oft irgendwie noch durch, bei Klassik dämmert es aber dann doch den meisten, dass es so irgendwie nicht geil ist. Nur wer diese Rhythmuskomponente versteht, checkt meiner Meinung nach, was überhaupt beispielsweise an einer Haydn-Sonate so cool ist und Spaß macht. Alle anderen denken "bisschen uninteressante Musik..."
 
Man muss sicherlich unterscheiden zwischen feinen agogischen Freiheiten als Mittel der Phrasengestaltung, die sich über den Puls legen und ja sogar bei Bach unverzichtbar sind („beseelte Linie“) und dem in der Klassik gültigen Grundsatz der Tempoeinheit. In einem Band des Handbuchs der musikalischen Gattungen (Laaber-Verlag) steht der für klassische Ästhetik zentrale Begriff „Einheit in der Mannigfaltigkeit“. Dies reicht meines Erachtens schon aus, um die Einheit im Tempo zu begründen. Und beim Betrachten anderer Objekte der Klassik wir z.B. des Gartens von Versailles lassen sich Analogien erkennen.
 
Also, dieses strikte Im-Tempo-Bleiben ist nur eine abstrakte Zombievorstellung.
Getanzt und gesungen wurde jedenfalls nicht auf Atomuhrgenauigkeit.

Allerdings ist es schon so, dass "Klassiker" im Tempo- und Taktgefühl meistens ungenauer agieren als Jazzer & Co.

Mir hat es mal ein Jazzer so dargestellt: "Ihr Klassiker spielt nur auf Viertel, bei uns laufen die Achtel als Beat durch."

Nicht verschwiegen werden soll, dass es ungefähr in den 1980er Jahren eine breitere Diskussion gab, ob man bei Beethoven innerhalb eines Satzes verschiedene Tempi nehmen soll, so als Gestaltungsmittel. Ich glaube, Siegfried Mauser war da ein Wortführer. (btw: Es geht überhaupt nicht um Grete W.'s Prestißimo.)

Ich war mal mit meinem Cellisten in einem Konzert mit diesem Wortführer. Den Cellisten (großer Amateurmusiker) haben diese Temposchwankungen genervt, ich - noch jung und taub - hatte nix bemerkt. :dizzy:
 
Mir hat es mal ein Jazzer so dargestellt: "Ihr Klassiker spielt nur auf Viertel, bei uns laufen die Achtel als Beat durch."
Ein guter, auf professionellem Niveau spielender Jazzer würde solchen kompletten Blödsinn niemals von sich geben.

Natürlich könnte man als Ahnungsloser jetzt meinen: "Ja, aber Ihr Jazzer spielt doch oft diese sehr schnellen Stücke mit Tempoangabe Viertel= über 200 - vielleicht ist das mit den 'Achteln als Beat' gemeint?"

Nein - schon Dizzy Gillespie hat es klar dargelegt, dass die empfundene Grundschwingung stets eine immer noch ruhige sein muss: "The faster I play, the slower I count." Wer ein schnelles Tempo als Abfolge hektischer, schneller Beats empfindet bzw. gar mit dem Fuß klopft, verfehlt den Sinn der Sache.

Dies ist eine stilübergreifende Wahrheit. Schnell spielen lernt man, indem man im Schnellen das Ruhige findet und sich zueigen macht.
 
Meister, Du biegst es (wieder) in eine Richtung hin, die die getätigte Aussage als Blödsinn hinstellt.

Es ging um die Genauigkeit im Metrum & Rhythmus, nicht um 200 bpm. Nenn es Timing, Microtiming... aber lass mal bitte künftig davon ab, in Statements anderer Leute nur das Falsche gleißen zu sehen, das sich vielleicht in einem ungenau geschriebenen Nebensatz aufhält.

Gäbe ein Mathe-Lehrer derartige Kommentare ab, würde ich ihn als KML bezeichnen. Peng, aus.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dann sollen die Leute ihre Statements so formulieren (oder Du sie dergestalt korrekt wiedergeben), dass man sie auch so versteht, wie sie intendiert waren.
 
Nicht "man", sondern Du.
Pengpeng.
 
Beethoven hat in seinem Exemplar der Cramer-Etüden minutiöse Spielanweisungen und Kommentare notiert. Sie sind höchst aufschlußreich, was Agogik und Dynamik (vor allem in Kombination) anbelangt. Neu herausgegeben von Hans Kann: J.B. Cramer, 21 Etüden für Klavier (nach dem Handexemplar Beethovens …), UE 13.353
 
Auch sehr empfehlenswert zum Thema:
 

Tatsächlich findet man bei neueren Aufnahmen jüngerer Pianisten eine deutlich dezentere Verwendung des Rubatos. Die ältere Generation wie z.B. Howard Shelley verwendet es noch häufiger. Das führt dazu, wenn man Aufnahmen vergleicht, dass neuere Einspielungen sich ähnlicher anhören und man sich fragt, ob man sich dann noch eine Aufnahme zulegen soll. Ich weiß nicht, wem damit letztendlich geholfen sein soll. Das, was eine interessante Interpretation ausmacht, steht eben NICHT in den Noten. Je mehr Freiheiten man sich erlaubt, desto interessanter wird es, sofern man nicht die Grenze der Glaubwürdigkeit überschreitet. Was das bedeutet, muss jeder Hobbypianist für sich herausfinden (und ggf. mit seinen Zuhörern oder KL). Für kommerziell orientierte Pianisten gelten die Bedingungen des Marktes. Und der wandelt sich von Zeit zu Zeit.
Ich finde, wenn man weiß was man tut, also eine gute Kontrolle über die Tempi hat, sollte man sich nicht von irgendwelchen Zeitgeistern beeinflussen lassen.
 
Vorbildlich finde ich so eine Art "Mikroagogik" wie bei Gulda. Der verwendet Agogik sehr sparsam, alles klingt noch sehr präzise, die agogischen Feinheiten wirken aber hervorragend.
Es sollte für mein Empfinden halt keine Schwere reingebracht werden, die Mozart wie Brahms klingen lässt und es darf natürlich nicht technisch unbeholfen klingen. Ein völliges Verbot von Agogik halte ich aber selbst bei einer Bachfuge für sinnlos.
 
Agogik ist nicht etwas, was man "der Musik hinzufügt".

Sondern Agogik IST gewissermaßen die eigentliche Musik. Agogik, Timing, Microtiming - alles Versuche, in Begriffe zu fassen, inwiefern sich tatsächliche gut gespielte Musik von dem unterscheidet, was mit unzulänglichen Mitteln in Noten festgehalten werden kann.

The map is not the territory.

Daher ist allein schon der Gedanke bzw. das Vorhaben, "Agogik wegzulassen", gänzlich absurd und antimusikalisch.
 
Zum Thema des Fadens: lest mal die Beschreibungen Schindlers von Beethovens Klavierspiel. Selbst, wenn man aus Misstrauen 2/3 abzieht, bleibt noch immer eine ganze Menge Agigik übrig!
 
Schön dass noch jemand diese Autorin kennt.
Nicht alles ist gut, aber viele ihrer Ideen sind originell UND hilfreich!
Mehrere hochverehrte Jazzpianisten haben bei Whitesides wichtigster Schülerin, Sophia Rosoff, Unterricht genommen: Barry Harris, Fred Hersch, Bill Charlap, Ethan Iverson etc. So bin ich auf sie gekommen.

Natürlich - wie bei allen "Methoden" - ist auch diese nicht der "Stein der Weisen", aber genauso wie z.B. bei Feuchtwanger oder Taubman kann man dort wichtige Elemente mitnehmen, die u.U. bei einem "Knoten lösen". Bei mir waren es vor allem die Aspekte:
- Gesamtkoordination des Körpers vom Zentrum zur Peripherie
- daraus folgend: Finger nicht als "Instigators" der Bewegung, sondern als untergeordnete Endglieder
- daraus folgend: Spielen "als ob" die Finger "ausgeschaltet" seien und lediglich knöcherne Brücken zum Übertragen der vom Arm gelieferten Kraft auf die gewünschten Tasten
- daraus folgend: niemals mit den Fingern nach der nächsten Taste "langen" (horizontale Distanzen, ob links-rechts oder vorne-hinten, werden stets nur von Ober- und/oder Unterarm zurückgelegt)
- niemals "Note für Note" spielen oder üben, sondern stets in musikalischen Einheiten zusammengefasst, in einem ununterbrochenen, niemals auch nur kurz stillstehenden "basic rhythm"
- Rolle der Schulter als einziges Gelenk, das ununterbrochen eine kreisende Bewegung ausführen kann, beim Durchziehen des ununterbrochenen "basic rhythm"
- "alternating action" des Unterarms (2 oder mehr Töne in einer Schwungbewegung)
- Sachen, die schnell gespielt werden sollen, erst mal staccato üben
- keine "Aufwärts-Bewegungen" von der Taste weg machen, sondern die Taste erledigt das Beenden des Tons
- "Outlining" - Erarbeiten einer Passage, indem man zunächst nur die rhythmischen Schwerpunkte spielt und dann die Zwischentöne nach und nach einfügt ("tucking in")

Whiteside hat übrigens ihre Ansätze immer wieder modifiziert und auch Dinge verworfen; sie war ein überaus wacher Forschergeist und durch und durch Praktikerin.

Alter Tastendrücker, mich würde interessieren: Was genau findest Du bei ihr nicht so gut?
 
@hasenbein danke für Deine tollen Beiträge.
Kurze Geschichte:
Es gibt doch von Jon Schmidt dieses Blenderstück "All of me".
Da empfehlt der Komponist doch glatt, in dem toccata-artigen, sehr schnellen Anfangs-Teil die Achteln als Rhythmus zu zählen.
Mit den Ergebnis, dass man vor lauter Zählerei nicht das Originaltempo erreichen kann.
Wenn, dann sollte sich der Pianist an den Vierteln nur orientieren, aber den Offbeat fühlen.
Leider ist das Stück so konzipiert, mit hemdsärmeligen Bemerkungen, dass Anfängern suggeriert wird, dass sie das schon schaffen werden. Die sind dann heillos überfordert mit einer Zählerei, die rein gar nix bringt, wenn man den Offbeat nicht checkt.
Aber wenn man es in gerade der Hälfte des Tempos (wenn überhaupt) schafft, hört sich das Stück einfach nur gruselig an und zieeeeht sich...
 
Bei so was (Hände spielen komplementäre Rhythmen) sollte man immer so üben, dass man das Ganze als EINEN Gesamtrhythmus wahrnimmt, bei dem halt nur die Einzelereignisse auf 2 Hände verteilt sind.
Vorgehensweise beispielsweise (bei mittelmäßigen Schülern):
- Gesamtrhythmus erstmal singen, bis man das im richtigen Tempo unangestrengt und mit "Groovegefühl" kann (ggf. den sich vorher mal in 1 System aufschreiben, damit er wirklich klar ist)
- Dann weiterhin singen, aber Tempo erstmal wieder langsam und auf den Oberschenkeln den Rhythmus mit richtiger Handverteilung mitklopfen (ggf. dazu kleinere Abschnitte im Kreis)
- Tempo steigern
- Statt Oberschenkel für jede Hand 1 beliebige Taste nehmen
- Wenn das gut geht, statt der im vorherigen Schritt gewählten "Stellvertretertöne" die richtigen Töne des Stücks nehmen

Gezählt wird hier wohlgemerkt nirgends!!

Und natürlich ist der angesprochene Teil in diesem Jon-Schmidt-Stück nicht "sehr schnell", sondern wie einfaches Anhören der Originalaufnahme klarmacht, handelt es sich um einen Sechzehntel-Groove im ungefähren Tempo Viertel=108. Habe gesehen, dass das wohl in irgendwelchen Noten so notiert ist, dass Achtel die kleinste Einheit sind und das Tempo über 200. Das ist natürlich kompletter Quatsch, der anscheinend nur deswegen erfolgte, damit die armen Schüler nicht ob des Anblicks von Sechzehnteln in Ohnmacht fallen...
 
Zuletzt bearbeitet:
Übrigens Korrektur: Bill Charlap hatte nicht bei Sophia Rosoff Unterricht, sondern bei Taubman-Lehrern.
 

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