Literatur versus Improvisation - ein Konflikt im Gehirn?

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Tastimo

Guest
Wie ich ja schon mehrfach schrieb, habe ich klassischen Klavierunterricht gehabt, mich aber immer auch parallel mit Improvisation und Populärmusik beschäftigt. Das habe ich auch immer als sich gegenseitig befruchtende Bereicherung empfunden. Bis gestern.

Nun habe ich folgende Erfahrung gemacht: Angespornt durch dieses Forum habe ich in den letzten zwei Monaten so gut wie gar nicht mehr improvisiert, sondern mich fast ausschließlich mit klassischer Literatur beschäftigt. Gestern habe ich mal wieder mehr improvisiert, und hatte das Gefühl, ganz viel verlernt zu haben, unflexibler und unkreativer geworden zu sein, was ich nach längeren Reisen, in denen ich gar nicht Klavier gespielt habe, noch nie erlebt habe.

Heute lief alles wieder etwas besser, aber ich habe den Verdacht, dass klassisches Klavierspiel (oder generell Klavierspiel mit festgelegten Abläufen) für Improvisation Minus-Üben bedeutet. Das klassische Spiel profitiert aber nach meiner Erfahrung auf jeden Fall von Improvisation.

Wie kann das sein? Geht es den Improvisateuren unter euch auch so?
 
Ich kann es nur bedingt nachvollziehen. Bei mir war das mit dem Improvisieren bzw. v.a. Komponieren so:
Als Kind habe ich gerne herumgespielt und kleine Stücke geschrieben. Irgendwann, so mit 15, genügten die Stücke meinem eigenen Anspruch nicht mehr, und ich habe ca. 10 Jahre lang nicht mehr Komponiert. Dafür habe ich in dieser Zeit Klavierspielen gelernt und vieles über Musiktheorie, Form etc. Das Element des "kreativen Erschaffens" hat vermutlich irgendwo in meinem Gehirn weiter gebrodelt, und als die Zeit wieder reif dafür war, hat es sich erneut gezeigt.

Es kann also sein, dass du zunächst mal durch deine neuen Erkenntnisse etwas gehemmt wird, weil die Grundlage, deine Ausgangsbasis, die du für die Impro heranziehst, sich verändert hat. So als hättest du zum Malen bisher nur drei Farben gehabt, und jetzt sind es plötzlich fünf. Das musst du erstmal sortieren und überlegen, wie du damit arbeitest.

Ich denke, du brauchst keine Sorge haben - wenn du bisher improvisiert hast, wird das bald wieder kommen.
 
Mir ist noch eingefallen, dass Keith Jarrett mal in einem Interview gesagt hat, er würde nie im selben Konzert klassische Literatur und improvisierten Jazz spielen, weil die Umstellung zu groß sei.
Erstaunlich, denn Improvisation (besonders auch bei Jarrett) besteht ja zum großen Teil nicht aus komplett Neuem, sondern kleinen Fragmenten, die man auswendig verinnerlicht hat und in der Situation neu zusammensetzt. Vielleicht ist es aber auch genau dieses Zusammensetzen, das fürs Gehirn einen Widerspruch bedeutet zum "Abspulen" einer festgelegten Tastenfolge, wo man sich eben "nur" auf die Gestaltung konzentriert.
 
Ich denke, du bist einfach bei Impro aus der Übung.
Stell dir folgende Varianten vor:
1) Du übst jeden Tag eine Stunde Impro
2) Du übst zusätzlich zu 1) 1/2 Klassik nach Noten.
Denkst du nach 6 Monaten Variante 2 klappt Impro schlechter als bei Variante 1)?
 
Frage zu Impro-Definition:
Ist das wirklich zum größten Teil Zusammensetzung auswendig gelernter Fragmente?

Bei mir ist es zum größten Teil der Versuch der Umsetzung und Entwicklung von musikalischen Ideen, die mir in den Sinn kommen und begrenzt durch einen enger oder weiter gesetzten Rahmen.

Wenn du eine Impro singen würdest, wären das auch z. größten Teil auswendig gelernte Fragmente?

Wenn ich frei spreche oder schreibe, bilde ich die Sätze ja auch in dem Moment und habe zwar einen Wortschatz, genau so wie ich zu einem Akkord bestimmte Töne für passend empfinde, aber die Phrasen und Sätze sind vielfach neu und die Töne bei der Impro erscheinen in rhythmischen Mustern, in denen sie bisher nicht auswendig gelernt waren.

Für mich ist neben dem Vokabular und der Kreativität eine Komponente der Impro, das Gedachte auf den Tasten 1:1 umzusetzen und oft kommt etwas anderes dabei heraus genauso wie ich nicht genug Übung habe, eine gehörte Phrase immer genau am Instrument wiederholen zu können.
 
@Bassplayer
Mit den kleinen auswendig gelernten Einheiten meinte ich die Wortebene, nicht ganze Phrasen.

Zum Thema Übung kann ich nur sagen, dass es nach längerer Zeit ganz ohne Klavier besser läuft als wenn ich nur Klassik gespielt habe. Aber da ist der mdr-Text von @Häretiker aufschlussreich.
 
Vielleicht ist es aber auch genau dieses Zusammensetzen, das fürs Gehirn einen Widerspruch bedeutet zum "Abspulen" einer festgelegten Tastenfolge, wo man sich eben "nur" auf die Gestaltung konzentriert.
Diese beiden Möglichkeiten gibt es auch beim Standardtanz. Das "Abspulen" erfolgt weitgehend unbewusst, während das freie Aneinanderhängen von Modulen bewusste Entscheidungs- und Führungsarbeit bedeutet.
 
Diese beiden Möglichkeiten gibt es auch beim Standardtanz. Das "Abspulen" erfolgt weitgehend unbewusst, während das freie Aneinanderhängen von Modulen bewusste Entscheidungs- und Führungsarbeit bedeutet.

Dieses komische Folgenabtanzen, wo man sie nichtmal führen muss oder kann, gibt es zum Glück nur bei diesem unsäglichen ADTV-Welttanzprogramm *)

Man gehe mal in eine Szene, in der Tanzen traditionell gepflegt und weitergegeben wird, da gibt es keine Folgen. Da lernt man Vokabular und wirklich zu führen und zu folgen, bzw. sogar wirklich per Tanz zu kommunizieren (wo dann die Rollen mehr verschwimmen).
Da kann man mit jeder anderen Person auf der Welt tanzen, die nie die selben Folgen gelernt hat, aber die Sprache des Tanzes.

*) Dieses Welttanzprogramm haben sich mal Tanzlehrer bewusst überlegt, um Regeln zu haben, wie man Tänze unterrichten und bei Tournieren bewerten kann.
Dem gegenüber stehen die Tänze, die wir früher, von Generation zu Generation weitergegeben werden und sich dabei natürlich entwickeln.
Beispiele: Die Swingtänze (Lindy Hop, Balboa, Blues, Shag, NICHT West Coast Swing der heißt nur so), Tango Argentino (echter Tango)

Sorry for OT, aber beim Thema Pseudotanzen werde ich allergisch.

P.S./Edit: Irgendwie ist der sog. "Moderne Gesellschaftstanz" das Synthesia des Tanzens.
Ich habe noch von niemandem gehört, der/die vom "richtigen" Social Dancing zurück zur ADTV-Tanzschule (oder Verein) gewechselt ist.
Hat schonmal jemand seinem Klavierlehrer gekündigt, um mit Synthesia weiterzumachen?
 
Zuletzt bearbeitet:
Interessante Antwort. Vielleicht wird man das auch irgenwann beim Klavierspiel so sehen, Reproduktion vorgefertigter Musik vs. Improvisation. :005:
 

Interessante Antwort. Vielleicht wird man das auch irgenwann beim Klavierspiel so sehen, Reproduktion vorgefertigter Musik vs. Improvisation. :005:

Wieso 'wird'? Ich sah das die letzten Jahrzehnte so. Wobei 'Reproduktion' ja zu kurz gegriffen ist, aber im Prinzip schon.

Orchester sind auch zum größten Teil 17./18./19. Jhd.-Cover-Bands. :-)

Grüße
Häretiker
 
Dieses komischen Folgenabtanzen, wo man sie nichtmal führen muss oder kann, gibt es zum Glück nur bei diesem unsäglichen ADTV-Welttanzprogramm *)

Oh ja. Als meine Frau und ich heiraten wollten, wollten wir den Hochzeitstanz nicht mit einem Walzer eröffnen. Es sind dann 16h Privatlehrer geworden plus ein Sommerkurs: Tango Argentino. Das war so eine ganz, ganz andere Welt als der unsägliche Tanzkurs meiner Jugend.

Leider blieb es dabei ... wer weiß, vielleicht mache ich das nochmal ernsthafter.

Grüße
Häretiker
 
Dieses komischen Folgenabtanzen, wo man sie nichtmal führen muss oder kann, gibt es zum Glück nur bei diesem unsäglichen ADTV-Welttanzprogramm *)

Man gehe mal in eine Szene, in der Tanzen traditionell gepflegt und weitergegeben wird, da gibt es keine Folgen. Da lernt man Vokabular und wirklich zu führen und zu folgen, bzw. sogar wirklich per Tanz zu kommunizieren (wo dann die Rollen mehr verschwimmen).
Da kann man mit jeder anderen Person auf der Welt tanzen, die nie die selben Folgen gelernt hat, aber die Sprache des Tanzes.

*) Dieses Welttanzprogramm haben sich mal Tanzlehrer bewusst überlegt, um Regeln zu haben, wie man Tänze unterrichten und bei Tournieren bewerten kann.
Dem gegenüber stehen die Tänze, die wir früher, von Generation zu Generation weitergegeben werden und sich dabei natürlich entwickeln.
Beispiele: Die Swingtänze (Lindy Hop, Balboa, Blues, Shag, NICHT West Coast Swing der heißt nur so), Tango Argentino (echter Tango)

Sorry for OT, aber beim Thema Pseudotanzen werde ich allergisch.

P.S./Edit: Irgendwie ist der sog. "Moderne Gesellschaftstanz" das Synthesia des Tanzens.
Ich habe noch von niemandem gehört, der/die vom "richtigen" Social Dancing zurück zur ADTV-Tanzschule (oder Verein) gewechselt ist.
Hat schonmal jemand seinem Klavierlehrer gekündigt, um mit Synthesia weiterzumachen?
Du kannst ja beim Tanz toll finden, was du magst, aber warum machst du andere Tanzformen schlecht und sprichst von Pseudotanz?!

Dass dir das Führen so wichtig ist, sei dir unbenommen, aber das ist kein notwendiger Bestandteil von Tanz. Tanz ist erst mal (idR von Musik geleiteter) körperlicher Ausdruck. Wie und in welchem Stil jemand sich ausdrückt, sei ihm belassen. Und es gibt genug anspruchsvolle Tänze, die keine Paartänze sind und wo nicht geführt wird oder werden muss, z. B. Solo-Performances von Ballett oder Flamenco. Und auch einstudierte Abfolgen können Ausdruck beinhalten, den Tänzern Freude machen und einem evtl. Publikum ebenfalls.

PS: ich bin kein ADTV-Welttänzer.
 
Du kannst ja beim Tanz toll finden, was du magst, aber warum machst du andere Tanzformen schlecht und sprichst von Pseudotanz?!

[...]

Und es gibt genug anspruchsvolle Tänze, die keine Paartänze sind und wo nicht geführt wird oder werden muss, z. B. Solo-Performances von Ballett oder Flamenco. Und auch einstudierte Abfolgen können Ausdruck beinhalten, den Tänzern Freude machen und einem evtl. Publikum ebenfalls.

Ich habe mich auf das Feld des Paartanzes beschränkt, weil der Anstoß "Standardtanz" war.
Da kommt man, wenn es echt (wahrhaftig) sein soll, um Kommunikation (tänzerische, im Paar) nicht herum. Sonst ist es nur Folgenabgelaufe. Das fühlt man nicht nur, das sieht man auch.

An meinem Profilbild ist hoffentlich zu erkennen, dass ich dem klassischen akademischen Tanz nicht abgeneigt bin ;-)

Und ich gebe dir Recht, Bühnentanz braucht auch Ausdruck und Wahrhaftigkeit.
Aber Paartanz braucht nunmal die Tanzpaardynamik, die beim Äquivalent zum Tastendrücken einfach fehlt.
Und Tastendrücken ist nunmal Pseudomusizieren.
 
Der Kern meiner Aussage betrifft die Grenzüberschreitung zwischen bewusst /unbewusst. Beispiele gibt es viele, Paartanz ist nur eines.
 

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