Arte Doku über chinesische Klavierkinder

Monsieur_Barso

Monsieur_Barso

Dabei seit
14. Juni 2020
Beiträge
202
Reaktionen
198
Verehrtes Fachpublikum,

normalerweise verirre ich mich aufgrund meiner bescheidenen Fähigkeiten äußerst selten bis gar nicht in den Profibereich. Aber von den Mitlesenden hier würde mich die Meinung zu angefügter Arte Doku über chinesische Klavierkinder interessieren.

Auf den ersten Blick bestätigt diese Reportage all meine Vorurteile und Stereotype über den Ausbildungsdrill chinesischer Kinder bzw. deren Eltern und Lehrer, um sie für die Weltöffentlichkeit und den Wettbewerb fit zu machen. Sei es im Sport oder der Musik.
Teilweise erinnert das mehr an Clone Wars bei Star Wars, als eine leidenschaftliche und musische Auseinandersetzung mit dem Schönsten, das es gibt auf Erden, der Musik (klammern wir die Liebe mal kurz aus).

Andererseits hätten es auch ein Beethoven oder Mozart niemals zu Weltruhm geschafft, wenn nicht der Drill und die Strenge ihrer Eltern gewesen wären. So etwas Ähnliches hat vor kurzem ebenfalls David Garrett bezüglich seiner Karriere geäußert.

Allerdings würde mich von den Profis mal interessieren, wie groß (oder vielleicht auch klein) die Unterschiede zu europäischen Konservatorien und Klavierwettbewerben sind. Und was Ihr generell von dem hier Gezeigten haltet?

Vielen Dank im Voraus!


 
Zum Glück gibt es den Jazz. Da ist so etwas gar nicht möglich.

Und zu Bachs, Mozarts und Beethovens Zeiten wäre das so auch nicht möglich gewesen. Denn es ging auch dort nicht um blödes Nachmachen und Einpauken, sondern eigene musikalische Kreativität war selbstverständlicher Bestandteil der Musikpraxis.

Erst die ab dem 19.Jahrhundert erfolgte Kodifizierung der "klassischen Musik" und die Reduktion des Interpreten zu einem besseren "Abspielgerät" führte zu so absurden Drill-Praktiken. Ich habe auch chinesische Musikstudenten kennengelernt, und für die ist tatsächlich "Wettbewerbe gewinnen" das A und O. Den Schwachsinn kriegt man denen auch nicht ausgeredet.
 
Der Großteil der Kinder ist aufgrund von Drill und Zwang vielleicht technisch in der Lage, ein sehr schweres Stück herunterzurattern. Aber der Ausdruck, die Dynamik, all das, was das Stück ausmacht, muss man verstehen, und reif genug dafür sein. DAS sind aber die wenigsten Kinder. Man sieht ihnen an, dass die Mimik/den Ausdruck nicht von innen kommt, sie kopieren teilweise lediglich die Lehrkraft, oder/und tun das, was der Lehrer fordert (ohne es verstehen zu können).
Aber in den asiatischen Ländern ist das Thema Lernen/Karriere - was Kinder angeht - ziemlich öhm rigoros. Eine Kindheit in dem Sinne gibt es nicht.
Der "Traum von der großen Karriere" ist doch zu 99% der Traum der Eltern, nicht der Kinder.
 
Aber in den asiatischen Ländern ist das Thema Lernen/Karriere - was Kinder angeht - ziemlich öhm rigoros.
Das ist natürlich schon extrem. Auf der anderen Seite ist hierzulande aber Lernen durch ständige Wiederholung total verpönt und wird schnell mit militärischem Drill (und schnell auch gleich mit dem dritten Reich) verglichen. Das meine ich jetzt weniger in Bezug auf Klavierunterricht, sondern generell. Wobei stumpfes Wiederholen im Klavierunterricht noch eher akzeptiert wird als das Auswendiglernen des kleinen Ein-mal-Eins oder Vokabel pauken. Beim Fussballtraining oder Karatetraining sind ständige Wiederholungen auch gesellschaftlich ok. Nur beim schulischen Lernen hat man damit anschjeinend ein Problem.
 
...... Beim Fussballtraining oder Karatetraining sind ständige Wiederholungen auch gesellschaftlich ok. Nur beim schulischen Lernen hat man damit anschjeinend ein Problem.

Zum Thema Fußball halte ich mich für kompetenter als zum Kernthema in diesem Forum.
"gesellschaftlich ok."
Ja, aber das Problem wie in der Schule besteht auch.
Man möge sich nur die Zahl der im fernen Ausland erzogenen Profi-Fußballer anschauen, die in deutschen Ligen aktiv sind.
Oder die Zahl der (ehrgeizigen) Jugendlichen in unseren Vereinen. Rückläufig ist eine freundliche Beschreibung.
Selber die Fußballschuhe putzen und die Sporttasche vom Auto bis zur Umkleidekabine tragen, ist eben doch sehr lästig.
 
So, ich habe mir jetzt die Doku zu Gemüte geführt; sie war ja schon einmal irgendwo (von @Marlene?) in einem anderen Faden verlinkt worden.

Profi bin ich nicht. Trotzdem ein paar Gedanken:

1. Das Familienleben wird der vermuteten Klavierkarriere komplett untergeordnet, partiell oder ganz zerstört. Eltern trennen sich (damit der Vater eine bessere Arbeit anderswo annehmen kann oder weil die Eltern zu viel über das Kind und seine Fähigkeiten am Klavier diskutiert haben).

2. Der Umgang des Klavierlehrers mit dem kleinen Jungen ist haarsträubend: "Das habe ich dir schon zehnmal gesagt." - "Wenn dein Großvater nicht da wäre, würde ich Dir eine scheuern." - "Jetzt mach schon, sonst setzt es was." Inklusive das militärische Vokabular: "die Kinder = die Soldaten"; "musizieren = die Schlacht".
Und der Junge? "Nicht noch eine Klavierstunde! Ich will nicht!"

3. Eher zum Lachen fand ich die eine Stelle mit der "Piano-Battle": zwei Kinder spielen gleichzeitig - wer spielt besser und schneller? (Okay, das wird mit Adagiostellen-/-sätzen dann etwas schwierig.)

Bedenkenswert allerdings fand ich die Äußerung einer Mutter "Damals waren Kunst und Musik nicht angesehen." (Damals = vor circa 20-30 Jahren, je nach Alter der Mutter). Könnte es da so etwas wie einen -übertriebenen - Nachholbedarf geben? Der dann auf die Kinder projiziert wird?
 
Video leider nicht mehr verfuegbar, aber ich habe vor Kurzem meine KL gefragt, die nur Kinder unterrichtet, was sie am Unterricht am meisten stoert. Antwort war: die Kommunikation mit den Eltern.

Die Eltern sind die Antreiber hinter dem Kind, das selbst nach einem harten Schultag abends um 22 Uhr noch zum Klavierunterricht muss, obwohl es sich straeubt und lieber ins Bett will. Die Eltern vergleichen die Fortschritte ihres Kindes mit anderen Kindern und machen Druck bei der KL, wenn ihr Kind nicht mithalten kann. Inzwischen hat sie den Eltern untersagt, im Unterricht zu sprechen, weil sie staendig auf das Kind einreden.

Wenn die Eltern mal nicht dabei sind, gibt es Kinder, im Unterricht offen mit der KL ueber ihren Stress sprechen. Die KL weiss besser, was in den Kindern vorgeht, als die Eltern, fuer die der soziale Druck mehr wiegt als das Wohlergehen des Kindes.

Ich war mal bei so einer Masterclass im Publikum dabei. Eine Mutter fragte, warum ihre Tochter nicht schneller wird, obwohl sie das Stueck schon so gut kann. Der Pianist meinte, dass es an Temperament generell fehlt bei dem Kind. Die Aussage kann ich nicht beurteilen. Aber mich erstaunt, wie Eltern die Standards setzen, obwohl sie selber kein Instrument spielen. Trotzdem scheinen sie sehr gut zu wissen, was ihr Kind in welchem Zeitraum gelernt haben muss.

In China sind Zertifikate und Abschluesse das A und O. Nur so bekommt man die (Mindest-)Anerkennung in der Gesellschaft. Deshalb muss jedes Kind neben der Schule noch irgendwas lernen, damit es nicht schlechter dasteht als seine Mitschueler. Und Individualitaet spielt ueberhaupt keine Rolle, denn das laesst sich schlecht messen.

Ich weiss gar nicht, wieso ich schon wieder ueber China rede. Immer diese arroganten Auslaender, die alles besser wissen :-D
 
In China sind Zertifikate und Abschluesse das A und O. Nur so bekommt man die (Mindest-)Anerkennung in der Gesellschaft. Deshalb muss jedes Kind neben der Schule noch irgendwas lernen, damit es nicht schlechter dasteht als seine Mitschueler.

das ist bei uns auch nicht anders, Abi zählt mehr und bringt Anerkennung, sogar im Freundeskreis der Gleichaltrigen und im Berufsleben sowieso.
Damit die Kids keine Langeweile bekommen gibts dann zusätzlich noch Fussball, Chor, Klavier usw. Also die Tage meiner 7 Enkel sind immer sehr gut ausgefüllt.
 
Der arme kleine Junge ... :-(

Der Lehrer schimpft, weil er "wieder heult" und die Mutter lacht...
 

Abi/Nicht-Abi zählt (leider) auch schon, aber meiner Erfahrung nach noch trennender ist am Ende und hintenherum das Einkommen (ja, genau: das Geld).

Selbst unter Studenten findet diesbezüglich eine Binnendifferenzierung statt, selbst wenn sie das gleiche Fach studieren.

Und zu den Kinder mit den vollen Nachmittagen: Die diversen aufgenötigten Hobbys und Kurse werden durchgestanden. Im Erwachsenenalter wird dann alles das vergessen. Nichts wird aus der Jugendzeit mitgenommen (außer dem Stallgeruch für bessere Jobs). Als Erwachsene machen sie irgendeinen Brotberuf, der sie beim Leben nicht zu sehr stört. Aber sie haben keine Leidenschaft für irgendwas. Ich finde das sehr schade.
 
@DL1KRT
2005/6 waren in m. W. Deutschland die geburtenschwächsten Jahrgänge seit Ende des 2. Weltkriegs, erst seit 2007 geht es langsam bergauf. D. h. die 2007-er werden dieses Jahr 16 Jahre alt.

Ich kenne einige Jugendliche, die Sport auf Leistungsniveau machen und das wäre nicht unbedingt das, was ich für meine Kinder wollte. Tägliches Training, in den Schulferien 2x täglich, max. 4 Wochen Abwesenheit pro Jahr und das ab dem Grundschulalter. Dazu kommt das Verletzungsrisiko. Klar dürfen und sollen sie auch Hobbies haben (haben sie auch), aber ein ordentlicher Schulabschluss wäre mir eindeutig lieber.
 
es ist interessant, dass mit Blick auf Asien immer so schnell und laut "Drill" gerufen wird und die erbrachten beachtlichen Leistungen eher negativ bewertet werden.

Das ist glaube ich ein Zeitphänomen, das ich auch ganz stark in meinem Umfeld beobachte: viele Eltern (besonders die gebildeten) wollen ihren Kindern Druck und "das gnadenlose Schulsystem" ersparen und schicken sie deswegen auf Privatschulen (Waldorf, Montessori). Bei Mitschülern mit asiatischen Hintergrund ist eher das komplette Gegenteil der Fall.

Das führt dann dazu, dass wie seinerzeit im internationalen Masterstudiengang an unserer Universität die Hälfte der Studierenden aus Asien kam und die deutschen Studierenden aufgrund des extrem hohen Leistungsniveaus der Asiaten kaum noch mithalten konnten.

Natürlich haben sich das dann alle schön geredet, dass sie ja so viel kreativer und problemlösungsorierientierter und weniger stupide "gedrillt" wären.

Aber alles in allem finde ich schon die Frage berechtigt, ob die Leistungsverweigerung, die unsere Leistungseliten propagieren, auf Dauer zukunftsfähig ist.

Die einsame Leistungsspitze in der Klasse meines Sohnes führen Schüler mit chinesischem und indischen Migrationshintergrund an.

Vielleicht sollten wir uns nicht zu vorschnell auf den Drill einschießen, sondern uns fragen, wie eine Alternative aussehen könnte, die zumindest ansatzweise mithalten kann. Unternehmen, die ich kenne, stellen inzwischen bevorzugt osteuropäische Ingenieure an ihren osteuropäischen Standorten) ein, die leistungsbereiter sind und wohl teilweise auch leistungsfähiger.
 
Yingying, das zwölfjährige Mädchen mit Brille und Pferdeschwanz, hat auf mich einen hochmotivierten und ehrgeizigen Eindruck gemacht. Wenn sie nicht gut spiele, würde sie am Flügel schmollen, hat sie gesagt.

Die Szene im Restaurant finde ich auffällig. Sie schaut ins Handy, die Mutter bittet sie, es wegzulegen und dann schauen beide auf ihre Displays, weil die Ergebnisliste abgerufen wird. Währenddessen fährt das Mädchen ihre Mutter an mit "Halt den Mund!", "Schau mich nicht die ganze Zeit an" und "Geh weg!".

Das Mädchen scheint sich selber Druck zu machen mit ihrem Ehrgeiz gut zu sein. Die bei Clavio viel zitierte intrinsische Motivation scheint hier vorzuliegen. Allerdings kann ich nachvollziehen, dass das Mädchen genervt ist, wenn die Mutter beim Üben beobachtend neben dem Flügel steht.

Dass ein Klavierlehrer, der im Film als Professor ausgewiesen wird (Chen Panpan), so mit einem Schüler umgeht (schubsen, am Arm ziehen, gegen den Kopf hauen und verbale Attacken), ist völlig daneben. So etwas macht man nicht, egal mit wem. Dagegen war die Professorin erfreulich sanftmütig.
 

Zurück
Top Bottom