Operninszenierungen: Hinweise, Empfehlungen und Kritik

  • Ersteller des Themas Ambros_Langleb
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Doch, es ist albern. Niemand erstellt ein Regiekonzept im luftleeren Raum, weder Herz noch Chéreau haben das je getan. Ob bewusst oder unbewusst, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, das sei mal dahingestellt - aber in irgendeiner Form fließen Überlegungen und Konzepte bisheriger Inszenierungen immer in eine Regiearbeit mit hinein. Selbstverständlich hat sich Herz mit Melchingers Ring auseinandergesetzt, und Chéreau hat sich damit ebenso auseinandergesetzt - wie auch mit Herz' Leipziger Ring und Götz Friedrichs Londoner Ring.

Und dem von dir geschmähten Melchinger muss man konstatieren, dass er der erste war, der mit der bis dato "heiligen" Wagner-Tradition gebrochen hat und die politische Dimension des Nibelungen-Stoffes in den Vordergrund gerückt hat. Vielleicht war die Zeit nach 1968 einfach reif dazu, aber dass die Inszenierungen von Herz und Friedrich davon nicht in irgendeiner Form profitiert hätten, lässt sich schwer widerlegen. Trotzdem ist es unsinnig, die beiden unter Plagiatsverdacht zu stellen - ebenso, wie es unsinnig ist, Chéreau unter Plagiatsverdacht zu stellen. Ein Regisseur hat geradezu die Pflicht, sich nicht nur mit dem Werk an sich zu beschäftigen, sondern auch mit dessen Rezeptionsgeschichte.

Aber mick, das sind doch alles Selbstverständlichkeiten. Warum echauffierst Du Dich eigentlich so? Offensichtlich hast Du übersehen, dass ich das "geklaut" in Gänsefüßchen gesetzt hatte. Es sollte verdeutlichen, dass Chereau keinesfalls der Erste war, der einem solchen Konzept folgte, wie gern behauptet wird.

Und was die Aufarbeitung von Vergangenem zum jeweiligen Stoff anbelangt, so wird man wohl heute lange jemanden suchen müssen, der das so gründlich betreibt, wie es Herz mit geradezu wissenschaftlicher Akribie getan hat. Ich kenne verschiedene seiner Regiedokumentationen/Inszenierungs-Vorbereitungen und kenne auch die persönlichen Berichte von Menschen, die daran mit ihm zusammen gearbeitet haben. Er hat nicht nur sich, sondern einen ganzen Stab beschäftigt und ist selbst der allerkleinsten Rand-Thematik des Stoffes nachgegangen. Vermutlich würde man heute in der Musikwissenschaft allein aus einer Operndoku zwei Doktorarbeiten speisen können.... :-D

Bis zu achtmal pro Woche waren seine Inszenierungen auf der Bühne zu sehen in einem vollen Haus mit weit über 1000 Plätzen und zu einer Zeit, in der man auch in der DDR abends eher vor der Glotze saß und Seichtes guckte....Warum wohl.... Honecker hat die da nicht reingeschickt, dem war Oper suspekt. :007:
 
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Warum müssen denn Figuren etwas mit unserer Gegenwart zu tun haben? (ich weiß ich weiß, einem Regisseur an einem deutschen Theater braucht man diese Frage nicht zu stellen, aber hier ist es vielleicht noch ein wenig anders... ;) )

Lieber pianovirus,

Ich glaube, dass sich deine Frage überhaupt nur stellt, weil man eine Oper nicht "nicht inszenieren" kann. Lese ich Goethes Faust, habe ich das Original vor meiner Nase - schaue ich Goethes Faust im Theater, ist eine Inszenierung vonnöten. In der Oper ist es ähnlich.

Inszenierungen sind also nötig und jede Inszenierung lässt natürlich Spielräume. Im Gegensatz zum Text oder zur Musik ist sie nicht bis ins Detail vorgegeben.

Egal welche Inszenierung man macht - sie hat immer eine Aussage. Meiner Meinung nach gibt es keine neutrale Inszenierung. Sie ist immer auch eine Interpretation des Regisseurs und dessen, wie er dieses Stück, dieses Werk, diese Oper sieht.

Natürlich kann man eine sog. historische Inszenierung machen. Ich zitiere mal Chereau in einem Interview mit Elfriede Jelinek (sorry, dass es so klein geworden ist!):

Chereau.PNG

Chereau wendet sich nach meinem Verständnis gegen die Bequemlichkeit des Hörers, gegen eine "Wohlfühloper", die der Hörer konsumiert. Ich sehe bei solchen "historischen" Inszenierung eine ebensolche Gefahr. Mich interessiert als Hörerin auch viel mehr, wie der alte Stoff, den sowieso die meisten kennen, in Bezug auf die heutige Gesellschaft interpretiert wird und damit seine Aktualität beweist. Es ist eine Interpretation des Stoffs von seiten des Regisseurs, so wie eine Inszenierung eines Theaterstücks auch eine Interpretation des Regisseurs ist. Und das finde ich spannend.

Zumindest fordern Inszenierungen heraus. In dem Kontext kann auch Kritik und Ablehnung einer Inszenierung positiv sein - kalt lässt sie einen in den seltensten Fällen.

Ich verstehe dabei unseren frosch, der die Inszenierungen (soll ich das böse Wort Regietheater sagen :003: ) oft zu oberflächlich, undurchdacht, zu sehr auf äußere Effekte bedacht empfindet und der den Eindruck hat, dass Regisseure sich oft nicht wirklich in Text, Musik und der bisherigen Rezeption auskennen (wenn ich das hoffentlich richtig wiedergegeben habe). Ich erinnere mich mit Grausen an einen armen Siegfried in Lederhosen :004: . Ich habe die Inszenierung damals wirklich nicht verstanden, aber immerhin - sie ist mir noch eindrücklich in Erinnerung. :003:

Insofern würde ich gar nicht unterscheiden wollen zwischen "historischer" und "moderner" Inszenierung. Ich meine, dass eine Inszenierung berühren und Fragen aufwerfen sollte. Wir sollten aus unserer Komfortzone gebracht werden, aber möglichst nicht durch die immergleichen Klischees von drittem Reich oder Sexorgien, sondern von innen heraus.

Liebe Grüße

chiarina
 
Ich erinnere mich mit Grausen an einen armen Siegfried in Lederhosen
Ich kenne die Inszenierung nicht, finde aber, dass ein Siegfried in Lederhosen nicht per se schlecht sein muss. Wer ist denn Siegfried, wenn nicht ein naiver Naturbursche (, der möglicherweise auch auf dem Münchner Oktoberfest seinen Spaß gesucht hätte)? Das kann schon ganz gut passen, wenn die Gesamtinszenierung stimmt. Die hat bei der von dir, Chiarina, gesehenen Vorstellung wahrscheinlich nicht gestimmt. Und damit bin ich beim nächsten Punkt:

Eine Inszenierung (Oper, Theater, ja sogar Film-Remake) darf sich von mir aus sehr weit vom historischen und ursprünglichen Umfeld entfernen, aber nur unter einer Bedingung: nämlich der intendierten Idee, dass es einen roten Faden gibt, damit meine ich eine Analogie der verwendeten Symbole. Das hieße z.B., dass im Kontrast zu Siegfried in Lederhosen Wotan als Vertreter einer Art „Establishment“ im Anzug erscheint. Das ist sicherlich sehr klischeehaft und plakativ, aber für ausgefeiltere Ideen sind ja Musiktheater-Regisseure zuständig;-). Wenn sich ein Symbolsystem etabliert, das Bezüge und Rückbezüge aller in einer Inszenierung verwendeten Elemente aufeinander ohne Willkür abstimmt, und wenn zusätzlich noch die Elemente der Inszenierung keinen Widerspruch zum Text (Worte, Musik) entstehen lassen, dann, und nur dann ist eine Inszenierung für mich geglückt.
 
Liebe chiarina (und mick & alle),

ich war heute schon mehrfach versucht, zu schreiben, weil ich das Thema sehr interessant finde. Leider habe ich erst wieder am Wochenende richtig Zeit, daher hier nur kurz (und bitte nicht missverstehen, wenn auf die Schnelle etwas überspitzt formuliert sein sollte). Ein paar Zitate von Dir:

"Wir sollten aus unserer Komfortzone gebracht werden"
"gegen die Bequemlichkeit des Hörers"
'gegen eine "Wohlfühloper"'
"Mich interessiert als Hörerin auch viel mehr, wie der alte Stoff, den sowieso die meisten kennen, in Bezug auf die heutige Gesellschaft interpretiert wird und damit seine Aktualität beweist."

Man muss sich bewusst sein, dass diese informelle "Bühnenästhetik" untrennbar verknüpft ist mit Ästhetik, Gesellschaft, und Denken der Moderne und Postmoderne – und sekundär mit den Gedanken der "Aufklärung" (der MGG-Artikel "Musiktheater" wäre eine gute Ausgangsbasis zur Diskussion, um zumindest die sehr, sehr kurze Geschichte dieser Ästhetik als objektive Faktenbasis festzuhalten. Er ist auf jeden Fall lesenswert).

Der entscheidende Punkt ist: Ein solcher Theaterbegriff ist authentisch für Bühnenwerke, die im historischen und geographischen Dunstkreis eben dieses Begriffs entstehen (entstanden) — und für nichts anderes.

Es ist natürlich nicht verboten (und kann ja auch durchaus interessant sein), die Ästhetik einer bestimmten Epoche auch auf Werke anderer Epochen anzuwenden — ebenso, wie man auch die Clavierwerke Bachs oder der französischen Clavecinisten auf dem modernen Flügel spielen kann oder barocke Orchesterwerke mit einem romantischen Symphonieorchester.

Diesem Vorgehen eines "Ästhetiktransfers" entgegengesetzt steht eine "historisch informierte" (oder wie auch immer man es nennen möchte) Ästhetik. Dabei geht es nicht einfach um einen Katalog abzuhakender Kriterien (z.B. Verwendung von Instrumenten aus dem historischen und geographischen Kontext der Werkentstehung), als vielmehr und eigentlich darum, sich dem Werk so umfassend wie möglich im Lichte seiner Entstehungszeit anzunähern und zu versuchen, es in diesem Kontext zu verstehen, zu erfahren: erfahrend zu verstehen.

Beispiel Barockoper: Ihre Rolle und Bedeutung kann nur aus der Epoche heraus verstanden werden: Einerseits ein Mittel, mit welchem Regierende ihre Kultiviertheit, ihre Macht und ihren Reichtum demonstrieren konnten, andererseits einer der wenigen Gelegenheiten, hinter Kostüm und Maske (hinter dem sich Adlige und Nichtadlige verbergen konnten) die Regeln der Ständegesellschaft außer Kraft zu setzen.

Ein Kunstwerk, in dem es oft keine eindeutige Trennung zwischen Musik, Tanz und Schauspiel gab (z.B. nach antikem Vorbild: opéra-ballet, comédie-ballet, tragédie-ballet).

Das barocke Bühnenspektakel mit aufwendigen Bildern, Kostümen, Masken und hochentwickelter Bühnenmaschinerie war ein integraler Teil des Werkes. Rein oberflächliche Aneignungsversuche können dabei sicher nichts anderes als eine hohle Fassade liefern. Und gleichzeitig ist bei der Rekonstruktion vieles unsicherer als der Notentext und erfordert kreative Interpolation, aber es gibt z.B. historische Tanznotation, in der Opern-Choreografien aufgeschrieben wurden, es gibt Kostümskizzen, bildliche Darstellungen und viele weitere schriftliche Quellen. Ich hatte schon einmal auf dieses schöne Projekt zum "historically informed staging" hingewiesen (neben den zahlreichen kleineren Einzelprojekten):
https://www.teatrosancassiano.it/en

Kleines Fazit:
- Kompromisse wird man immer machen (rolf wird gleich wieder die Kastraten ins Spiel bringen.... ;-) )
- Es gibt einen weiten Raum voller Möglichkeiten, den man mit Gewinn erkunden könnte.
- Die deutsche (post-)moderne Theaterästhetik und -theorie ist nur eine davon. Wer sich für keinen anderen Zugang interessiert, wird ein Werk dann eben primär aus dieser einen, sehr speziellen Perspektive verstehen und sollte sich zumindest auch über deren Vorraussetzungen, Bedingungen und Grenzen bewusst sein.
 
Inszenierungen sind also nötig und jede Inszenierung lässt natürlich Spielräume. Im Gegensatz zum Text oder zur Musik ist sie nicht bis ins Detail vorgegeben
Ich hoffe, wir vergessen hier nicht die gewaltigen interpretatorischen Freiräume, die Musik ganz allgemein genießt.
Den Anhang 28902 betrachten
Chereau wendet sich nach meinem Verständnis gegen die Bequemlichkeit des Hörers, gegen eine "Wohlfühloper", die der Hörer konsumiert
Nene, da lese ich was ganz anderes: man will und/oder muss dem Stammpublikum öfter mal etwas Neues bieten - damit es wiederkommt, und die Opernkarten bezahlt.

Das kann ich nachvollziehen - und ist irgendwie auch echt doof. Wenn aus dem Zwang heraus, immer etwas Neues bieten zu müssen, immer eine andere Inszenierung gemacht werden muss, dann ist das normalerweise der Kunst nicht unbedingt förderlich, denn jedes "Neue" kann sehr gut immer auch "schlechter" sein...

Es ist ja nicht wie beim Film, wo man Handlung, Protagonisten usw. frei wählen könnte. Im wesentlichen ist nur die Inszenierung (im Sinne von Bühnenbild, Kostümen etc.) ein beeinflussbarer Parameter...

Oder man führt halt 'ne andere Oper auf... aber selbst das wird vielleicht bald langweilig...

Irgendwie will man mit dem "Regietheater" auch immer im Gespräch bleiben, provozieren, usw. egal wie "schlecht" das ist, was man auf der Bühne dann zeigt.

Ich bin auch eher für einen Siegfried in klassischer Heldentracht denn in Lederhosen...
 
Mich interessiert als Hörerin auch viel mehr, wie der alte Stoff, den sowieso die meisten kennen, in Bezug auf die heutige Gesellschaft interpretiert wird und damit seine Aktualität beweist.
...schmecke ich da eine Prise Überheblichkeit aus dieser Zusammenstellung von Gemeinplätzen*) heraus?

Weder Chareau noch Kupfer oder Herheim stellen sich über den Stoff bzw. den Text odert postulieren gar hochnäsig dessen Bedürftigkeit der Aktualisierung, weil er so altbekannt ist (bei der Oper meist so alt wie die jeweilige Musik), sondern sie versuchen, eine stringente (und auch augenfällige) Deutungsebene herzustellen - diese kann (muss aber nicht, siehe Kupfer Ring) Bezüge zur Aktualität herstellen, sofern der Stoff eine solche Deutung zulässt.

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*) ist das Alter eines Stoffs entscheidend für seine Qualität? wenn ja, müssten Hamlets Konflikte obsolet, aber Deppenaugust Pennywises Freßverhalten aktuell sein, also Shekespeare in die Tonne und TEY-Skribent King auf den Olymp... (eine Begründung dafür wird viel Spaß bereiten) - - kennt man alle Stoffe wirklich (säßen wir jetzt googlelos an einem Tisch, könnten wir ein schönes Stoffe-kennen Spiel machen! Grundlos gibt es keine Lexika z.B. antiker Stoffe usw) und wieso sollte die heutige Gesellschaft das Maß aller Dinge sein, dass man auf sie Bezug nehmen und damit Aktualität "beweisen" muss? Merkst du, wie inhaltlich hohl diese wohlfeilen Worthülsen sind?
 
Ich verstehe dabei unseren frosch, der die Inszenierungen (soll ich das böse Wort Regietheater sagen :003: ) oft zu oberflächlich, undurchdacht, zu sehr auf äußere Effekte bedacht empfindet und der den Eindruck hat, dass Regisseure sich oft nicht wirklich in Text, Musik und der bisherigen Rezeption auskennen (wenn ich das hoffentlich richtig wiedergegeben habe).

Du hast! :super::-)

(Allerdings habe ich nix gegen das böse R-Wort, sondern gegen das, was gelegentlich unter dieser Rubrik fabriziert wird. )

All denen, die noch nicht so lange mit dem Forum leben, empfehle ich den alten Opernfaden

https://www.clavio.de/threads/moegt-ihr-oper.8087/page-7

ab ca. S. 7, v.a. auch zum Thema Regie ab Mitte der 30er Seiten.
 
Zuletzt von einem Moderator bearbeitet:
...schmecke ich da eine Prise Überheblichkeit aus dieser Zusammenstellung von Gemeinplätzen*) heraus?

Lieber rolf,

stimmt, so kann man es interpretieren, so ist es aber nicht gemeint.

Natürlich hat das Alter eines Stoffs nichts mit seiner Qualität zu tun. Sonst könnten wir den ollen Bach auch gleich in die Tonne kloppen. :)

Ich bin leider keine Fachfrau für Musiktheater und Regie. Was ich aber in Interviews mitbekomme, so stellt eine Inszenierung immer eine Interpretation des Textes, der Musik und der bisherigen Rezeption dar. Eine Inszenierung ist nie rein darstellend und selbst wenn man eine darstellende "historische" Inszenierung machte, würde diese eine Aussage darüber haben, wie der Regisseur den Text etc. sieht.

Arroganz hat da nichts zu suchen und so war es auch nicht von mir gemeint.

Weder Chareau noch Kupfer oder Herheim stellen sich über den Stoff bzw. den Text odert postulieren gar hochnäsig dessen Bedürftigkeit der Aktualisierung, weil er so altbekannt ist (bei der Oper meist so alt wie die jeweilige Musik), sondern sie versuchen, eine stringente (und auch augenfällige) Deutungsebene herzustellen - diese kann (muss aber nicht, siehe Kupfer Ring) Bezüge zur Aktualität herstellen, sofern der Stoff eine solche Deutung zulässt.

Nein, sie stellen sich nicht ÜBER den Stoff, aber sie nehmen sich durchaus Freiheiten heraus, die sie als wichtig zum Verständnis erachten, denn - man kann es drehen und wenden, wie man will - im Zuschauersaal sitzt das Publikum der heutigen Gesellschaft und ich bin der Meinung, dass man als Regisseur durchaus auch den Rezipienten im Blick haben sollte.

Diese Freiheiten können die Einflechtung zusätzlicher Figuren, die im Original gar nicht auftauchen, bedeuten. Herheim macht das in seiner Inszenierung von "Blaubart". Sein Blickwinkel ist dabei aus der heutigen Zeit, in der er ja lebt, und ich meine, das ist nicht verkehrt. Er sagt hier z.B.: "Wir haben uns daher für unsere Inszenierung eine Rahmenhandlung gebaut, aus der heraus wir das ganze Phänomen der Operette, die ja tausendfach schon für tot erklärt wurde, betrachten können."

Zudem hat er die Textfassung geändert mit folgender Begründung:

"Genau. Das ist ja die Herausforderung mit der Gattung. Eine Operette lebt durch die idiomatischen und politischen Witze, die immer auf die Tagesordnung bezogen sind. Wenn man zum Beispiel heute in Paris den Barbe-Bleue mit dem historischen französischen Text spielen würde, würde kein Pariser verstehen, worum es geht, also muss da in jeder Hinsicht Übersetzungsarbeit geleistet werden. Das hat natürlich auch Felsenstein damals gemacht. Er hat seine Übersetzung auf die SED und die damaligen Verhältnisse in der DDR umgepolt und zum Beispiel die Figur des Bobèche als Persiflage auf den großen Diktator entwickelt. Später hat er sich dann wahnsinnig aufgeregt, als die SED bei ihm einige rhetorische Wendungen angegriffen hat. Im Kern ist es höchst politisches Theater, wenn man so will, weil hier eigentlich die Macht ihre eigene Ohnmacht feiert und zwar nicht als Kritik von unten – auf Brechtscher Ebene von unten nach oben schreiend – sondern, wie in Offenbachs Welt, tatsächlich gefördert und bezahlt vom Kaiser selbst, wenige Jahre bevor er dann endgültig untergeht und die Republik entsteht." (https://van.atavist.com/herheim-interview)

Für mich ist das kein "sich über den Stoff stellen", sondern die Verwirklichung der Intention des Stoffes und seiner Aussage, die in der heutigen Zeit mit heutigem Publikum mit veränderten Mitteln erfolgen kann als im Original.

Wenn so etwas gelingt, ist das doch ein riesiger Gewinn!

Ich bin auch in der Barockoper nicht wirklich bewandert. Aber ist es nicht so, dass sie auch immer ein Spiegel der Gesellschaft war?

Ich zitiere:

"Auf der Bühne Gesellschaftskritik zu üben, gehörte in den deutschen Opern des frühen 18. Jahrhunderts gewissermaßen zum guten Ton, blieb aber zumeist ein Privileg der Hanswurst-Gestalten, die in vordergründig lustigen Gleichnisarien dem Publikum allerlei Wahrheiten ins Stammbuch singen durften. Doch es war ebenfalls Teil des Spiels, daß derjenige, der sich angesprochen fühlen durfte, stets die Fassung bewahrte. Ein zeitgenössischer Verhaltensratgeber für adlige Personen empfahl jedenfalls ausdrücklich:

„Es geschieht bißweilen, daß in einer Oper etwas vorkömmt, welches sich ganz natürlich und ungezwungen auf eine Person applicieren läßt. Fühlt man sich selbst betroffen, so tut man am klügsten, wenn man sich nicht übel ärgert, sondern so tut, als ob man gar nichts merket.“"

Danke, lieber @pianovirus, für deinen sehr interessanten Beitrag! Du kennst dich da sicher besser aus als ich. Wie würdest du denn das Argument sehen, dass Gesellschaftskritik zur Barockoper dazugehörte, und deshalb auch heute mit der Interpretation solcher Opern Gesellschaftskritik geübt werden dürfe/solle. Du schreibst ja auch, dass rein oberflächliche Aneignungsversuche eine hohle Fassage liefern und kreative Interpolation erforderlich sei. Was verstehst du darunter?

Sind nicht Oper und Theater DIE Möglichkeiten, uns einen Spiegel vorzuhalten. Nicht um des Selbstzwecks willen, aber viele Opern bieten doch die Möglichkeit und manche Romane erzwingen eine solche Inszenierung im Theater sogar aus meiner Sicht (Dostojewski...).

Du schreibst:
- Es gibt einen weiten Raum voller Möglichkeiten, den man mit Gewinn erkunden könnte.

Welche wären das denn?

Liebe Grüße

chiarina
 
Wenn so etwas gelingt, ist das doch ein riesiger Gewinn!
da sind wir uns einig - z.B. Chareaus Ring, Müllers Tristan, Herheims beide Parsifals (der eine als Krankenzimmerfantasie, der andere als Gang durch die dt. Geschichte) sind solche gelungenen Beispiele; Schlingensiefs Parsifal eher nicht.

Aber nochmals: ein Bezug auf die aktuelle Lebenswelt des Publikums ist weder a priori immer notwendig (ein Hamlet ist da eher zeitlos bzw. resistent gegen nutzlose Verortung in irgendeine Gegenwart, ein Tristan auch) noch ist das ein Markenzeichen des Regietheaters (siehe Harry Kupfer, dessen spektakulärer high-tech Ring in einer fiktiven Zukunft nach einer atomaren Katastrophe angesiedelt ist)

Sehr schön sind die von dir zitierten Äußerungen Herheims: sie zeigen, dass der 1. was von seinem Fach versteht und 2. nicht wahllos "aktualisiert" - etwa das hier "Wenn man zum Beispiel heute in Paris den Barbe-Bleue mit dem historischen französischen Text spielen würde, würde kein Pariser verstehen, worum es geht, also muss da in jeder Hinsicht Übersetzungsarbeit geleistet werden." (Herheim) begründet Angleichungen an die Gegenwart als "Übersetzung" nicht mehr verstehbarer Textpartien, diese werden dann verständlich gemacht (ein anderes Primitivexempel dieser Art: einem Publikum, das nicht weiß, was Ratten im Libretto einer Wiener Operette sind, dem muss man Statisten im Nuttenkostüm vorführen) ...übrigens will die Notwendigkeit der Übersetzungsarbeit nicht so ganz zum Pseudoargument "den Stoff kennt man schon längst" passen...;-);-):-D:-D denn wären die Kenntnisse vorhanden, bräuchte es nicht die Übersetzungsarbeit des Regisseurs :-D:-D:-D:-D:drink:

Dort, wo das Regietheater die Vorlage (das zusammenwirken von Text, Szene und Musik in der Oper) deutet (interpretiert) bzw. eine Deutungsebene augenfällig macht (Chareau bringt die von G.B. Shaw erkannte Kapitalismuskritik im Ring auf die Bühne) ist das ganz wunderbar - so fantastisch, dass manche Aufführungen dank Bild/Tonträgern (Video, DVD) völlig zurecht Jahrzehnte lang konserviert und immer wieder angeschaut werden können (Chareau, Kupfer, Dorst mit dem Ring, Heiner Müller mit dem Tristan) ---- ABER wenn die Regie ihre Kunstgriffe bezugslos zum Selbstzeck macht, indem kein vernünftiger Deutungsbezug zum Stoff dargestellt wird (Schlingensief Parsifal, Marthaler Tristan), dann vergrätzt man das Publikum. In Stuttgart war ein musikalisch toller Don Carlos, die Regietheaterinszenierung war sehr ästhetisch und optisch gelungen - trotzdem ein Ärgernis: die Inquisition wurde als quasi rumänische Stasi (Securidad) dargestellt... Pardon, aber so blöde, nicht zu wissen, was die Inquisition ist, dürfte kaum ein Opernbesucher sein... diese Art von Pseudobelehrung (mimimi gucksdu Inquisition böse wie Stasi böse wie Nazi, hättsdu nie gedacht, lernsdu was von Regiegenie) ist ebenso verzichtbar wie dämlich, und wenn dann in dieser intellektuellen Missgeburt der König den Stasiboss mit sakralen Titeln anspricht, ist die Lächerlichkeit vollends erreicht (schon fies, wenn die Leute im Publikum den ital. Text und dessen dt. Vorlage kennen...) :lol::lol::lol::lol:
Kurzum: die Kunstgriffe der Regie dürfen nicht zum Selbstzeck werden, denn dann ist das misslungen - leider gibt es nur wenige Chareaus, Kupfers, Herheims...
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...jetzt warte ich noch darauf, dass du mir die grandiose Komplexität des haarsträubend blöden, plump effekthascherischen und erzähltechnisch trivialen Bübchen-auffress-Clowns erklärst ;-):-D:drink:
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein Einschub in euren Dialog, damit ich es nicht vergesse.

@Ambros_Langleb , Du fragtest mal, ob man eine Art Opernästhetik der DDR benennen könne. Wenn Du dieses Portrait (ich weiß, ich nerve einige damit.... :004:) mal durchsiehst und hörst, hast Du einen nicht unmaßgeblichen Eindruck davon. Nicht zuletzt ist darin sehr viel Kluges und Allgemeingültiges zur Opernregie (z.B. ca.32-34) gesagt. Natürlich muss man das alles aus der Zeit heraus (es war vor 40, 50 Jahren!!) betrachten. Nicht zuletzt die damalige Optik ist für heutige Gewohnheiten oft recht museal....
 

...jetzt warte ich noch darauf, dass du mir die grandiose Komplexität des haarsträubend blöden, plump effekthascherischen und erzähltechnisch trivialen Bübchen-auffress-Clowns erklärst ;-):-D:drink:

Der Clown ist nicht komplex, sondern der Roman und speziell die sehr einfühlsame und packende Charakterisierung und Darstellung der Kinder. Wir können uns gern weiter drüber unterhalten, wenn du den Roman gelesen hast! :007: :004:

Liebe Grüße

chiarina
 
Wir können uns gern weiter drüber unterhalten, wenn du den Roman gelesen hast! :007: :004:
...keine Bange, ich hab den Schmalzgruselschmöker gelesen (weil geschenkt gekriegt) und: das ist erzähltechnisch entsetzlich trivial und öde konventionell (wenn man Bubenfressclown mit böser Gräfinmutter vertauscht, isses wie Courts-Mahler!) und die Figuren sind allesamt eher uninteressant - in zwei Zeilen Törless (Musil) oder auch nur Herr der Fliegen (Golding) ist mehr Gehalt und Gestaltung, auch was das Thema Pubertieris angeht, als in dieser Gruselschnulze
(...wobei fraglich bleibt, was da gruselig sein soll... etwa der bescheuerte August?)
 

Lieber frosch,

ich habe mir das Porträt nun angesehen - es ist wirklich zu empfehlen. So museal finde ich das gar nicht - die "Bewegung" im Walkürenritt mit Hinzunahme des Balletts hat mir sehr gefallen! :003: Und die musikalische Qualität ist auch hervorragend!

Mir gefällt sehr, wie Herz seine Arbeit beschreibt. Er nennt sie nicht "schöpferisch", sondern als "Verlebendigung" der Partitur. Ihm ist sehr wichtig, was da steht!

Sehr interessant auch der Schluss! Herz meint, dass z.B. im Figaro durch den Text bestimmte Vorgaben gegeben sind (Susanna und Figaro brauchen die Lizenz des Grafen, um heiraten zu können und das Stück lebt von dem Abhängigkeitsverhältnis dieser vom Grafen) und nicht in die heutige Zeit übertragen werden können (beispielweise den Grafen als Chef im Nadelstreifenanzug darstellen). Heutzutage könne man einfach kündigen und das Abhängigkeitsverhältnis wäre dahin - dann braucht man die Oper nicht zu spielen, so zusammengefasst seine These.

Ich bin allerdings der Meinung, dass, wenn es gelänge, heutige Abhängigkeitsverhältnisse darzustellen, die es ja sehr wohl gibt, der Stoff seine Gültigkeit behält und dem Publikum verknüpft mit der "alten" Geschichte etwas Neues erzählt. Ich finde das spannend.

Liebe Grüße

chiarina
 

Einiges schon. Aber wenn ich mich erinnere,was ich in den 70/80er Jahren in nicht ganz so prominenten Häusern gesehen habe, so scheint mir, dass deren auch damals schon begrenzteren Mittel die Stilisierung der Bühnenbilder förderten, was der Bühne oft ganz gut getan hat. Für zu viel Opulenz fehlten Geld und v.a. Material. So manches davon könnte man ohne große Verrenkungen auch heute noch so machen, ohne damit besonders aufzufallen.

Ein Lob, dass Du das Filmchen durchgehalten hast. (Die langen Ausschnitte aus technisch eher schlecht aufgezeichneten Aufführungen, muss man ja nicht vollständig anschauen.....;-))

Sehr beachtlich fand ich die geistige Frische des 85jährigen , der noch immer für seinen Beruf brennt..... und zum Abschluss von seinen Fehlern redet......:super:
 
Der Clown ist nicht komplex, sondern der Roman und speziell die sehr einfühlsame und packende Charakterisierung und Darstellung der Kinder.
das ist erzähltechnisch entsetzlich trivial und öde konventionell (...) und die Figuren sind allesamt eher uninteressant - in zwei Zeilen Törless (Musil) oder auch nur Herr der Fliegen (Golding) ist mehr Gehalt und Gestaltung, auch was das Thema Pubertieris angeht, als in dieser Gruselschnulze
Da prallen ja Meinungen aufeinander... :004: Ich kenne den (alten) Film davon. Finde ich, naja, so mittelmäßig...

Was dicke Bücher angeht, da warte ich gern, bis jemand ein paar Millionen in die Hand nimmt, und ggf. tolle Filme daraus macht. Lesen ist mir da zu anstrengend und zu langwierig.

Als Filme einfach genial:

Der englische Patient
Herr der Ringe
Harry Potter
Legenden der Leidenschaft
(und so manche andere)
 

Was dicke Bücher angeht, da warte ich gern, bis jemand ein paar Millionen in die Hand nimmt, und ggf. tolle Filme daraus macht. Lesen ist mir da zu anstrengend und zu langwierig.


Da entgeht dir aber so einiges.
Dünne Bücher, sofern es um Romane und nicht um Novellen geht, langweilen mich meist zu Tode, weil die Charaktere i.d.R. total oberflächlich bleiben.
Außerdem hat man sich gerade eingelesen und dann ist das Buch schon wieder zu Ende. :lol:

Ich liebe es wenn die Charaktere bis ins kleinste Detail ausgearbeitet und beschrieben wurden, ebenso detailierte Ortsbeschreibungen und auch zeitgeschichtliches zur Zeit der Handlung.

Von den meisten Romanverfilmungen bin ich oft enttäuscht, weil viele mir wichtige Details weggelassen wurden.

Und um auf Stephen King zurückzukommen, ich hasse Clowns und Puppen und sein Genre ist absolut nicht meins, insofern habe ich Es nicht gelesen und werde es auch nicht. Dafür gibt es zu viele gute Bücher, die ich noch nicht gelesen habe
( ja @rolf ich werde es nachholen und endlich Ulysses lesen, ich habe mir auch vorgenommen es im Original zu lesen;-))
 
"Samson et Dalila" an der Lindenoper

https://www.staatsoper-berlin.de/de/veranstaltungen/samson-et-dalila.7651/

Jan Brachmann schreibt heute im Feuilleton der F.A.Z. u.a.:

" So wie es bei Festivals für Neue Musik inzwischen Avantgardespießer gibt, die buhen, sobald ein Durdreiklang zu hören ist, ohne sich zu fragen, was damit gemacht oder gesagt wird, so gibt es offenbar jetzt auch im Theater die Gattung der Aktualisierungsspießer, die sofort buhen, wenn ihre zuckende Lust nicht durch die Schlüsselreize des Heutigen gestillt wird: echte Flüchtlinge, echte Elendskinder, Hitlergrüße." :003:

Anlass waren die Buh´s über das traditionelle Bühnenbild.....

Vielleicht sollte man sich das mal anschauen! Die Rezension lädt -auch sonst- dazu ein.
 
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