Takt im Debussy-Prelude nicht ganz ausgezählt ... ?

Dabei seit
31. Jan. 2008
Beiträge
1.290
Reaktionen
1.110
Hallo liebe Debussy-Fans,

zum Prelude Nr. 8 (La Fille aux cheveux de lin) aus dem ersten Buch von Claude Debussy zwei Fragen:

1. Im Takt 4 wird m. E. die Zeit auf dem Ges-Dur Akkord von den meisten Pianisten nicht voll ausgehalten. Die letzten zwei Achtel des Taktes kommen immer zu früh!
(Es ist auch viel verlangt, die halbe Note voll auszuhalten.)

Ein paar Kandidaten für "zu früh":
Lang Lang
View: https://www.youtube.com/watch?v=jGSZPRk6aXA


Michelangeli
View: https://www.youtube.com/watch?v=MswHKA4dako


Gulda
View: https://www.youtube.com/watch?v=8l4p7YocFIQ


Richtig gezählt die Aufnahme mit Orchester (Bearbeitung Stokowski)


View: https://www.youtube.com/watch?v=kjxACM7ZZdE


Wie sollte ich da für mein Spiel des Stücks verfahren, wie macht Ihr das, wenn Ihr das Stück spielt?

2. Die Notation im allerletzten Takt finde ich eigenartig: was soll die Terz dort im oberen System mit den kurzen Bindebögen davor? Sind die Bindebögen so kurz, um Platz für die beiden Viertelpausen zu lassen? Sind das dieselben Bindebögen wie im unteren System - deshalb wird die Terz nicht mehr angeschlagen?

Vielen Dank für hilfreiche Tipps!

Walter
Takt 4.jpg letzter Takt.jpg
 
1. Im Takt 4 wird m. E. die Zeit auf dem Ges-Dur Akkord von den meisten Pianisten nicht voll ausgehalten. Die letzten zwei Achtel des Taktes kommen immer zu früh!

Das sehe ich gar nicht so. Die Vorschrift "sans rigueur" sagt ja gerade, dass (rhythmische) Strenge hier unerwünscht ist. Deshalb spielen alle Pianisten den Beginn sehr frei, quasi improvisatorisch - ein stabiles Metrum gibt es am Beginn dieses Préludes gar nicht. Und deshalb kann man auch nicht sagen, dass der Akkord zu kurz ist. Zu kurz im Verhältnis zu was sollte er denn sein? Nimmt man die Sechzehntelbewegung in der vorangehenden plagalen Kadenz als Richtschnur, ist er selbstverständlich zu kurz - aber aus welchem Grund sollte man ausgerechnet diese ritardierenden Noten dazu hernehmen? Legt man - beispielsweise bei Michelangeli - das Durchschnittstempo der ersten eineinhalb Takte zugrunde, dann passt die Länge des Akkordes perfekt dazu - und so ist auch meine Empfindung: es klingt bei ihm genau richtig.

In der Orchester-Einspielung ist der Akkord hingegen zu lang. Der musikalische Fluss kommt hier zum Erliegen und der nachfolgende Auftakt verliert seine natürlich Verbindung zum Beginn des Stücks. Das stört mich beim Hören sehr, denn Debussy hat den Phrasierungsbogen bis zu diesen Auftakt (der übrigens auch ein Spiegelbild der letzten beiden Noten vor dem Akkord ist, was man beim Hören sofort wahrnimmt) nicht ohne Grund durchgezogen.

2. Die Notation im allerletzten Takt finde ich eigenartig: was soll die Terz dort im oberen System mit den kurzen Bindebögen davor? Sind die Bindebögen so kurz, um Platz für die beiden Viertelpausen zu lassen? Sind das dieselben Bindebögen wie im unteren System - deshalb wird die Terz nicht mehr angeschlagen?

Man nimmt selbstverständlich ein durchgehendes Pedal ab dem Ges-Dur-Akkord und tupft die beiden Oktav-Arpeggien in den Klang hinein. Es besteht keine Notwendigkeit, da irgendwas mit den Fingern zu halten. Die Notation ist nur deshalb etwas umständlich, weil Debussy exakt festlegen wollte, wie lange das Pedal nach der letzten Arpeggio-Oktave noch getreten bleiben soll. So frei, wie der Rhythmus am Anfang ist, so streng ist er am Ende.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Mick,

vielen Dank für Deine Ausführungen. Das "sans rigueur" am Beginn ist dazu der Schlüssel und das erscheint mir so auch schlüssig! - Ich werde das also ebenfalls "sans rigueur" einüben und im vierten Takt so aushalten und hinhören, dass der "Anschluss den Anschluss nicht verliert".
Trotzdem ist es mir immer wichtig, die taktliche Struktur eines Stückes zu durchschauen, damit ich die Freiheiten auch gezielt einsetze.
Ein wunderschönes Stück übrigens. Gibt es für die flachsblonde Schönheit eine Vorlage, ein Gemälde oder sonst was? Ich war bisher zu faul zu suchen! ;-)

Wünsche ein gutes verlängertes Wochenende!

Walter

P.s.: von französisch habe ich keine Ahnung, ich wurde früher in Latein geschickt und habe meine schlechten Noten dort geschrieben. - Hätte ich meine schlechten Noten in französisch geschrieben, hätte ich jetzt mehr davon. Aber: zum Debussy spielen extra französisch lernen? :lol:
 
Gibt es für die flachsblonde Schönheit eine Vorlage, ein Gemälde oder sonst was? Ich war bisher zu faul zu suchen!

Gibt es. Kein Gemälde, sondern ein Poème von Charles Marie René Leconte de Lisle:

La fille aux cheveux de lin

Sur la luzerne en fleur assise,
Qui chante dès le frais matin ?
C'est la fille aux cheveux de lin,
La belle aux lèvres de cerise.

L'amour, au clair soleil d'été,
Avec l'alouette a chanté.

Ta bouche a des couleurs divines,
Ma chère, et tente le baiser !
Sur l'herbe en fleur veux-tu causer,
Fille aux cils longs, aux boucles fines ?

L'amour, au clair soleil d'été,
Avec l'alouette a chanté.

Ne dis pas non, fille cruelle !
Ne dis pas oui ! J'entendrai mieux
Le long regard de tes grands yeux
Et ta lèvre rose, ô ma belle !

L'amour, au clair soleil d'été,
Avec l'alouette a chanté.

Adieu les daims, adieu les lièvres
Et les rouges perdrix ! Je veux
Baiser le lin de tes cheveux,
Presser la pourpre de tes lèvres !

L'amour, au clair soleil d'été,
Avec l'alouette a chanté.
 
Vielen Dank!
So viel Poesie in französisch - fast nicht zu verdauen! Kölnklavier hat mir schon heute morgen dankenswerterweise diesen Text samt einer deutschen Übertragung (für mich ganz wichtig!) zukommen lassen.

Viele Grüße

Walter
 

Zurück
Top Bottom