Henri Dutilleux - Komponist und Werk

alibiphysiker

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Hallo ihr Lieben,

heute würde der von mir sehr geschätzte Komponist Henri Dutilleux seinen 103. Geburtstag begehen. Diesen Anlass nutze ich, um einen Thread zu starten, in welchem über Ihn und sein Werk diskutiert werden kann. Außerdem möchte ich diesen Faden zum Anlass nehmen, mich mit seinem (gut überschaubaren) Gesamtwerk auseinander zusetzen und in regelmäßigen Abständen einzelne Werke von ihm vorzustellen.

Doch zunächst einige Worte zu Henri Dutilleux.

Henri Wer? So ging es mir auch, als ich vor mittlerweile 5 oder 6 Jahren auf ein Konzert des RSO Stuttgart fuhr, und zum ersten mal ein Werk von ihm hörte. Es war das Cellokonzert "Tout un monde lointain...", welches von Dutilleux in den Jahren 1967-1970 für Mstislav Rostropovich komponiert wurde. Und gewissermaßen begeisterte mich dieses Stück sofort und ich fragte mich, warum ich noch nie zuvor von diesem Komponisten gehört hatte. Auch wenn Dutilleux kein unbekannter Name ist, verglichen mit dem 8 Jahre älteren Messiaen und dem 9 Jahre jüngeren Boulez, stand Dutilleux weit weniger im Rampenlicht. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Dutilleuxs Stil lässt sich schwer mit wenigen Worten beschreiben und er gehörte keiner der "großen Schulen" an, welche die neue Musik im mittleren 20. Jahrhundert prägen sollten. Stattdessen war sein Stil sehr divers und zeichnete sich eher durch eine Meisterschaft vieler Kompositionstechniken und ästhetischer Strömungen aus. Weiter neigte Dutilleux nie zum dozieren oder belehren und stand somit auch weit weniger im öffentlichen Interesse als einige seiner Kollegen. Und zuletzt komponierte er aufgrund seines immensen Selbstanspruches langsam und wenig, was seinen Namen auch seltener erscheinen ließ. Sein Werkkatalog ist nicht lang, aber schon Messiaen kommentierte, dass jedes einzelne Stück ein "Meisterwerk" sei.

Dutilleuxs Jugend und musikalische Ausbildung:

Dutilleux, 8 Jahre jünger als Messiaen und 9 Jahre älter als Boulez, wurde am 22. Januar 1916 in Angers, im Nordwesten Frankreichs, geboren. In seiner Familie fanden sich einige weitere bekannte Persönlichkeiten. Sein Urgroßvater, Constant Dutilleux (1807-1865), war ein Maler, Grafiker und Illustrator, der vor allem durch seine Landschaftsbilder Bekanntheit erlangte (im folgenden ein Bild von ihm).
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Sein Urgroßvater war der Komponist Julien Koszul und in seiner Familie fand sich sogar ein ziemlich bekannter Mathematiker: Jean-Louis Koszul, Entdecker der Koszul-Kohomologie und Mitglied des Autorenkollektivs Nicolas Bourbaki. Bereits als Schüler erhielt er am Konservatorium von Douain Unterricht in Klavier, Kontrapunkt und Harmonielehre bei Viktor Gallois. 1933 setzte er seine Studien am Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse de Paris fort, wobei er Komposition bei Henri Paul Büsser studierte und sich unter seinen Lehrern auch so bekannte Namen wie Maurice Emmanuel fanden. Von seinem frühen Werk ist wenig überliefert, denn Dutilleux, der seinem eigenen Werk stets kritisch gegenüberstand, vernichtete sein frühes Werk größtenteils. Auch wenn es seinen eigenen Qualitätsansprüchen nicht genügte, war er mit seinem Schaffen nicht wenig erfolgreich: So gewann er 1938 den begehrten "Grand Prix de Rome". Den anschließenden Aufenthalt in Rom konnte er allerdings leider nicht beenden, denn der Ausbruch des zweiten Weltkrieges zwang ihn zur Heimkehr. Ein Jahr lang arbeitete er als Sanitäter im Kriegsdienst, um dann 1940 nach Frankreich zurückzukehren, wo er als Klavierlehrer, Pianist und Arrangeur arbeitete. In den Kriegsjahren entstand auch seine relativ bekannte (und sehr schöne) Sonatine für Flöte und Klavier, welche als Auftragskomposition für eine Reihe von Examensstücken für das Pariser Konservatorium entstand. Dutilleux stand dieser Sonatine, wie seinem gesamten Frühwerk, sehr kritisch gegenüber und sagte:
... dieses Flötenstück ist die Sonatine für Flöte und Klavier, welche oft im Ausland aufgenommen wurde, obgleich ich nie wollte, dass sie in Frankreich aufgenommen wird, da sie nicht wirklich wie meine Musik klingt.
Kurz nach Ende des zweiten Weltkrieges, im Jahre 1946, heiratete er schließlich die Pianistin Genevieve Joy, mit welcher er bis zu ihrem Tod im Jahre 2009 verheiratet sein sollte. Genevieve Joy, eine einflussreiche Pianistin der neuen Musik Frankreichs im 20. Jahrhundert, war unter anderem für ihre hervorragenden Blattlesefähigkeiten von Orchesterpartituren bekannt. So wird berichtet, dass sie bei Kompositionswettbewerben häufig von der Jury eingeladen wurde, um die eingereichten Kompositionen aus den Orchesterpartituren zu spielen. Genevieve Joy war darüberhinaus auch Widmungsträger zweier Klavierwerke von Dutilleux, wie dem toccatenartigen letzten Satz der frühen (aber sehr hübschen) Klaviersuite "Au gré des ondes" sowie seinem "Opus 1", der wirklich grandiosen 1948 vollendeten Klaviersonate, welche er als sein erstes vollwertiges Werk betrachtete.
 
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Dutilleux um das Jahr 1959:

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Formung seiner Klangsprache:

1945 trat Dutilleux eine Stelle beim französischen Rundfunk als Programmdirektor an, welche er bis 1963 innehaben sollte. Diese Stelle verhalf ihm zu einem regelmäßigen, vom Komponieren unabhängigen Einkommen und brachte ihn darüber hinaus in Kontakt zu zahlreichen Komponisten der damaligen Zeit. In dieser Zeit tüftelte Dutilleux mit viel Zeit und Ruhe an seiner eigenen, hochgradig charakteristischen Klangsprache. Durch die Stelle beim französichen Rundfunk konnte er es sich leisten langsam zu arbeiten und seinen immens hohen Ansprüchen immer gerecht zu bleiben. Weiter merkt man seinem Werk an, dass er sich zwar mit den verschiedensten ästhetischen Strömungen des 20. Jahrhunderts sowie mit historischen Kompositionstechniken beschäftigt haben muss, doch diese nirgends dogmatisch einsetzt sondern stattdessen in verschiedensten Stellen seines Werkes gekonnt einsetzt oder auch darüber hinausgeht. Um die Vielseitigkeit von Dutilleuxs Klangsprache hervorzuheben, eignet sich sehr gut das folgende Zitat, in welchem er auf die Zwölftontechnik (welche er selbst auch in einigen Werken gewissermaßen bedachte) eingeht:
Ich habe nie wirklich akzeptieren können, dass in diesem System jegliche Hierarchie im Verhältnis der Halbtöne zueinander abgeschafft wird. [...] In meiner eigenen Musik finden sich zahlreiche Hinweise auf diese Idee von Hierarchie, durch die Verwendung von Ankertönen, Liegetönen, "obsessiven Klängen" und akkordischen Themen. Das zeigt, dass ich meiner natürlichen Neigung nach eine gewisse Polarisierung nicht nur akzeptiere, sondern gar nicht auf sie verzichten kann. Diese kann modal sein, polytona, atonal und - warum nicht - sogar tonal.
Ein weiteres Charakteristikum von Dutilleuxs Klangsprache ist das Experiment mit der Form. Bereits der Schlusssatz seiner Klaviersonate ist, wie ich finde, formal höchst interessant (dazu aber hoffentlich später einmal mehr). Offenkundig wird sein Experiment mit der Form im Werk "Metaboles" für großes Orchester, welches er 1963-1964 komponierte. Die zentrale Idee ist hier, dass das vorgestellte thematische Material kontinuierlich verändert wird und sich zwischenzeitlich auch sehr stark von den Ursprungsgedanken unterscheidet. Er sagte dazu:
Das Wort Métaboles, angewandt auf eine musikalische Form, offenbart meine Intetion: Eine oder mehrere Ideen in verschiedenen Abfolgen und von verschiedenen Winkeln zu betrachten, bis, über verschiedene Zwischenschritte hinweg, sie dazu gebracht werden, ihren Charakter völlig verändert zu haben.
Weitere größere Werke, welche in dieser Zeit entstanden, sind seine erste Sinfonie, deren Kopfsatz durch eine Passacaglia gebildet wird und seine zweite Sinfonie für zwei Orchester, welche ihm schließlich zu seinem Durchbruch als Komponist verhalf.

Die späteren Jahre und ein Überblick über sein Werk:

Mit wachsendem Erfolg gab Dutilleux schließlich seine Stelle beim französischen Rundfunk auf und nahm stattdessen eine Kompositionsprofessur am Pariser École Normale de Musique und später am Pariser Konservatorium auf. Mit wachsendem Erfolg stieg auch die Anzahl der Kompositionsaufträge, unter anderem von namhaften Musikern wie Paul Sacher, Simon Rattle, Anne-Sophie Mutter, Mstislaw Rostropovich, Reneé Fleming, Krystian Zimerman und Kent Nagano. In seinem späteren Werk ließ er sich auch von anderen Künsten inspirieren. In seinem Stück "Timbres, espace, mouvement, ou La Nuit étoilée" lässt er sich vom gleichnamigen Bild Vincent van Goghs inspirieren und wollte in seiner Musik die "kosmischen Wirbel" sowie die Kontraste zwischen den Sternen einerseits und dem dunklen Himmel portraitieren. Auch interessante Besetzungen finden sich in seinem Werk, wie in "Mystère de l'instant", welches für Orchester, Perkussion und Cimbalom verfasst ist. Neben seinen Orchesterwerken verfasste er auch einige Stücke für Soloinstrument und Orchester, wie dem bereits oben angesprochenen Cellokonzert, einem Isaac Stern gewidmeten Violinkonzert sowie einer neunminütigen, Anne-Sophie Mutter gewidmeten Nocturne für Violine und Orchester an welchem er 15 Jahre lang komponierte. An Kammermusik finden sich unter anderem ein Streichquartett und eine Stückesammlung für Cello. und seine Klaviermusik umfasst neben den weiter oben angesprochenen Werken noch 3 späte (wie ich finde extrem gute) Preludes, eine Stückesammlung für zwei Klaviere sowie einige kleinere Stücke.

2005 wurde Henri Dutilleux schließlich der Siemens Musikpreis verliehen und 2013 verstarb er schließlich, bis zuletzt aktiv, im hohen Alter von 97 Jahren.

Dutilleux im Jahre 2006:

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Zum Abschluss noch ein paar Zitate, um den Namen etwas mit Leben zu füllen:

Ich zweifle ständig an meiner
Arbeit. Deswegen überarbeite ich sie so oft. Gleichzeitig
bedauere ich, nicht produktiver zu sein“

Auf der andern Seite gibt es für jeden jungen Komponisten auf der ganzen Welt den Moment, in dem er sozusagen seinen Vater töten muss. Mag sein, dass ich das nicht gründlich genug getan habe. Pierre Boulez hat das sehr gewissenhaft erledigt. Aber vielleicht liegt es gerade daran, dass meine Musik für das Publikum zugänglicher ist. Doch mir geht es nie darum, verständlich zu sein. Ich suche meine absolute Wahrheit.

Über Boulez Klaviersonaten:

[Diese Stücke liegen] weit abseits der Entwicklung, die ich nicht nur meiner, sondern der Musik im Allgemeinen wünschte".

Noch die Quellen:
- Die Wikipediaartikel zu den Stücken und zum Komponisten
- https://www.zeit.de/kultur/musik/2013-05/nachruf-komponist-henri-dutilleux/seite-2
- https://www.br-klassik.de/themen/kl...musik/henri-dutilleux-100-geburtstag-100.html
- https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/neue-musik/henri-dutilleux-nachruf100.html
- http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40474077.html
- https://www.zeit.de/kultur/musik/2013-05/nachruf-komponist-henri-dutilleux/seite-2
- "Henri Dutilleux: Jede Note auf der Goldwaage gewogen", Buch von Siglind Bruhn

Und zum allerletzten Abschluss noch ein paar Hörempfehlungen zum ersten Reinhören:
- Die Klaviersuite "Au gre des ondes" ist sehr hübsch, und weist bereits in einigen Punkten auf sein wesentlich reiferes Hauptwerk hin. Außerdem ist diese für den fortgeschrittenen Amateur auch gut spielbar!
- Seine Klaviersonate (am besten in der auf youtube verfügbaren Aufnahme mit Genevieve Joy) ist, wie ich finde ein sehr Guter Einstieg in sein Werk.
- Von seinem späteren Werk empfinde ich "Mystère de l'instant" am zugänglichsten. Auch seine Sinfonien sind ein guter Einstieg in sein Orchesterwerk.
- "Timbres, espace, mouvement, ou La Nuit étoilée" ist besonders schön, wenn man das entsprechende Bild von van Gogh kennt und mag.

P.S. Hinweise, kritische Anmerkungen, etc. sind natürlich erwünscht!
 
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Ganz toller Beitrag, ich hänge gerade mit dem Mund offen vor "Timbres, escapes" wie weiland vor "Gaspard de la nuit" und "Sacre", macht sehr viel Spaß.
 
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"Au gré des ondes" hatte ich einmal vor längerer Zeit (recht oberflächlich) angehört; ich habe es jetzt auf Deinen Beitrag hin wieder angehört und ich muss sagen, es spricht mich sehr an. Das könnte mal irgendwann auf meiner Wunschliste stehen.
 

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