Schostakowitsch, 1. Symphonie

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Ambros_Langleb

Ambros_Langleb

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19. Okt. 2009
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Ich habe die Symphonie gestern abend gehört und muss sagen, dass ich ein bisserl überfordert war. Kennt jemand eine Werkbeschreibuing, die über die oberflächliche Reclam-Prosa hinausgeht oder kann aus eigener Hörerfahrung etwas sagen? Ein prophylaktisches Dankeschön!
 
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Ich habe die Symphonie gestern abend gehört und muss sagen, dass ich ein bisserl überfordert war. Kennt jemand eine Werkbeschreibuing, die über die oberflächliche Reclam-Prosa hinausgeht oder kann aus eigener Hörerfahrung etwas sagen? Ein prophylaktisches Dankeschön!

Du hast also das Glück gehabt, eine Schostakovich Symphonie live hören zu können? So eine Gelegenheit hat man nicht oft.

Ich bin kein Musikwissenschaftler oder Kritiker, Experte oder dergleichen. Was ich weiß über die 1. von ihm: Diese war die Abschlußarbeit seines Musik-/Komponierstudiums. Da war er noch jung, optimistisch und frei von Zwängen und Konventionen. Das hört man gut heraus bei dieser Ersten, so meine Meinung. Ein bisschen jugendliche Ungebremstheit.

Ich liebe diese Symphonie sehr!
 

Also, ansatzweise versucht: es gab vorher Beethovens Violinkonzert. Nun, das habe ich natürlich schon oft gehört, aber eigentlich nie richtig studiert. Trotzdem fällt es mir nicht schwer, da, sagen wir mal, »mitzudenken«, am Anfang die beiden Themen mitzukriegen, die Durchführung, Reprise etc. und mich dabei darauf konzentrieren zu können »wie« das dargeboten wird (sehr schön übrigens, obwohl der Solist, ein Professor der MH Augsburg namens Linus Roth, ziemlich spontan für eine erkrankte Koreanerin eingesprungen ist). Bei Sch. gibt es solche strukturellen »Leitplanken« nicht (oder ich habe sie einfach nicht gehört) und deswegen braucht man als Laie einfach Hilfe. Natürlich habe ich versucht, mir vorab ein wenig Klarheit zu schaffen, aber mit wenig Erfolg. Ich nehme stellvertretend für alles, was mir kurzfristig unter die Hände gekommen ist, bequemlichkeitshalber mal das Programmheft (die Autorin ist Referentin des GMD). Da steht also:

»Sch. nutzte die konventionelle Form nicht in hergebrachter Weise, sondern ... brach sie auf und erneuerte sie von innen heraus. ... Im zweiten Satz ... steht eine Motorik im Vordergrund, die Schostakwitschs Affinität zur musikalischen Ironie und Groteske Rechnung trägt. ... (es) findet ein Klavier Verwendung, das vor allem in seiner perkussiven Eigenschaft zum Einsatz gebracht wird. .. Der dritte Satz ist sehr differenziert gestaltet und von großer emotionaler Intensität«. Und so weiter.

Als historischer Sprachwissenschaftler bin ich daran gewöhnt, dass ich alles belegen muss, was ich behaupte. Bei den Musikwissenschaftlern scheint das anders zu sein. Es wäre mir sehr geholfen gewesen, wenn die Autorin zentrale Aussagen wie »Erneuerung von innen« (da hätte sie ja bequem an das Vorwissen des konventionellen Konzertgängers anschließen können), »Ironie«, »Groteske« und deren Relation zum Begriff der Motorik wenigstens ansatzweise erläutert hätte, statt sie dem Leser mit überlegener »das verstehst du sowieso nicht« - Pose vor den Latz zu knallen, dem sie natürlich (sicher ungerechtfertigterweise) dann als Leerformeln erscheinen müssen.

Nur dass ein Klavier »in seiner perkussiven Eigenschaft zum Einsatz gebracht wird« hat mir natürlich eingeleuchtet. Aber vermutlich deshalb, weil ich das mit meinem auch immer mache. So bin ich also genauso dumm heim- wie hingegangen.
 
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@frosch

Danke für den Hinweis; da steht tatsächlich einiges mehr als im Konzertführer und im Programm. Aber, was ganz typisch ist -

Was ich höre, ist Musik aus Tausendundeiner Nacht (Anmerkung: Dieses und das Folgende ist bildhaft gesprochen und keinesfalls wörtlich zu nehmen). Es ist, als würde plötzlich eine Kamelkarawane vorüber ziehen, das Orchester diese bemerken, verblüfft sein Spiel einstellen und dem langsamen Zug zusehen, um schließlich, nachdem die Fata Morgana verschwunden ist, unbetrübt weiterzumusizieren.

- Rezensenten und auch manche Musikwissenschaftler scheinen eine Seelenverwandtschaft mit Theologen zu haben: immer wenn's wichtig wird, flüchten sie sich in die Metapher.
 
Lieber Ambros,

in aller Kürze, ganz unwissenschaftlich und ohne Quellen: Schostakowitschs Erste ist ein Wunderwerk an Reife - in Hinblick auf sein künftiges Schaffen, denn sie nimmt Charakteristika seiner späteren Symphonik (vor allem die Finalproblematik) vorweg.

Als Hörer muß man sich von den Wesensmerkmalen deutsch-österreichischer Muster befreien, die die klassisch-romantische Symphonik geprägt haben (gewisse Aspekte bei Mendelssohn, Schubert und Bruckner mal außer Acht gelassen), vor allem vom Ideal der Entwicklungslogik, d.h. einer die ganze Symphonie durchziehenden Durchführungstechnik bzw. motivisch-thematischen Arbeit.

Nicht daß es diese in der osteuropäischen Symphonik nicht gäbe. Aber im Osten hat sich eine stärkere Orientierung an großen, in sich geschlossenen Formblöcken herausgebildet (Exposition, Reprise, A-B-A'-Liedform, Rondo und Couplet etc.), zu denen eine eher liedhafte bzw. ariose Melodik paßt. Reine Durchführungsabschnitte sind oft nur Episoden zur Überbrückung zwischen den großen Formteilen. In der Durchführung bleiben die Themen oft unverändert und werden nur andersartig umspielt. Das vorherrschende Reihungsprinzip folgt dabei einer eigenen, schwer zu beschreibenden und nicht zu unterschätzenden Logik.

So viel zum richtigen Hören dieser Musik - wenn man nicht (als Westler) dauerhaft irritiert bleiben möchte. Schostakowitsch modernisiert dieses Denken in Formblöcken, indem er es mit dem zu seiner Zeit gerade hochmodernen Montage-Prinzip (mosaikartige Verknüpfung von Formteilen, Ideal: die Diskontinuität, der extreme Gegensatz zur Entwicklungslogik) verbindet. Das ist grandios: die Rekonstruktion der romantischen Symphonie aus dem Geist der Montagetechnik. Dazu leistet sich Schostakowitsch den Luxus, in der Aufeinanderfolge diskontinuierlich wirkender Episoden motivisch-thematisch zu arbeiten.

Zur Ersten: Das Beste ist zweifellos der zweite Satz, ein vor Ideen nur so sprühendes Scherzo mit einem interessanten Formplan: Teil 3 ist die Addition der Teile 1+2, eine in Osteuropa besonders favorisierte Kontrapunkttechnik: das quodlibet-artige Übereinandertürmen von Melodien. Das Klavier wird in dem Satz übrigens nicht als Perkussions-, sondern als den anderen gleichwertiges Melodieinstrument eingesetzt.

Der dritte Satz ist leider zu lang. Ihm hätten ein paar Striche gut getan - was in gewisser Weise auch für das Finale gilt, wo allerdings die Länge, das qualvolle Suchen nach dem Ende, richtig auskomponiert ist. Das Finale nimmt die für spätere Schostakowitsch-Symphonien (ab Nr.5) typische Entwicklung vorweg: Auf den final-typischen Aufschwung folgt ein jäher, katastrophaler Absturz, aus diesem ein unruhiges Tasten und Suchen nach neuer Entfaltungsmöglichkeit des Materials, woraus aber nichts wird - außer der Kapitulation am Schluß, dem Hineinsteuern in in eine kurze, wie angeklebt wirkende "freudige" Coda. Das Finalproblem der Unmöglichkeit affirmativer Abschlüsse hat Schostakowitsch von Mahler geerbt.

Herzliche Neujahrsgrüße
Gomez

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in aller Kürze, ganz unwissenschaftlich und ohne Quellen [etc]

Lieber Gomez,

herzlichen Dank für Deine ausführliche und wie immer eloquente Hilfestellung. »Irritiert« von dem Klangerlebnis war ich nicht, aber von meiner Unfähigkeit, es an vorhandene erfahrung und Wissen anzuschließen.

Ich finde Deinen Hinweis auf die östliche Tradition, in der Schostakowitsch steht, interessant. Hättest Du dazu vielleicht einen Lesetipp für mich? Und gehört in diese Tradition auf Schostakowitschs Lehrer oder wenigstens Hochschulchef Glasunow?

Ich wünsche Dir gleichfalls ein in jeder Hisicht gutes Jahr 2019!
 
Das wird von Musikwissenschaftlern auch erwartet, aber das ist in einer kurzen Werkbeschreibung im Programmheft eher nicht so gut möglich.

Da hast Du natürlich recht, und ich erwarte ja auch keinen Beglaubigungsapparat in Form eines Fußnotenfriedhofs. Aber wenn ich all das Füllmaterial abgetippt hätte, das ich oben in den "..." verschwinden habe lasse, würdest Du mir vielleicht beipflichten, dass man in diesen Lücken besser einige Hilfen für den Konzertbesucher untergebracht hätte. Nur ein Beispiel: wenn jemand den Begriff "Parodie" verwendet, ist das vollkommen sinnlos, wenn er nicht auch davon spricht, was parodiert wird und wie es geschieht. Das kann man durchaus konzis abmachen. Wer schon einmal einen Lexikonartikel oder ähnliches geschrieben hat, weiß, das das zwar unbequemer ist, als sich in wikipediaartiger Geschwätzigkeit auszubreiten, aber auch keine so große Kunst.
 
Das Finale nimmt die für spätere Schostakowitsch-Symphonien (ab Nr.5) typische Entwicklung vorweg: Auf den final-typischen Aufschwung folgt ein jäher, katastrophaler Absturz, aus diesem ein unruhiges Tasten und Suchen nach neuer Entfaltungsmöglichkeit des Materials, woraus aber nichts wird - außer der Kapitulation am Schluß, dem Hineinsteuern in in eine kurze, wie angeklebt wirkende "freudige" Coda..

Sorry , aber kein einziges Finale der Symphonien 6-15 ist nach diesem Muster konzipiert ...
 
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Nur ein Beispiel: wenn jemand den Begriff "Parodie" verwendet, ist das vollkommen sinnlos, wenn er nicht auch davon spricht, was parodiert wird und wie es geschieht. Das kann man durchaus konzis abmachen.

Ähnlich der Begriff "Formalismus" in Bezug auf Schostakowitsch, der auch nie erläutert wird, wobei man den Eindruck hat, die Programmheft- und Booklet-Autoren wissen selbst nicht, was damit gemeint ist.
 
Ähnlich der Begriff "Formalismus" in Bezug auf Schostakowitsch, der auch nie erläutert wird, w
Formalismus war der Kampfbegriff, mit dem man im sozialistischen Russland alles abqualifizierte, was in gewissen Kreisen der Nomenclatura als ungeeignet für das Volk galt. Inhaltlich hatte dieser Begriff keine wirklich fassbare Bedeutung. Vielleicht am ehesten: der 'westlichen Moderne' zu nahe, oder nicht ausreichend volksnah.
Aber selbst Khatschaturian wurde zeitweise wegen Formalismus gerügt!
 
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Ursprünglich stammt er aus der Literaturwissenschaft der 20-Jahre, wo er eine Analyse u. a, der Form eines Werkes meint, wurde im Zuge der sowjetischen Kulturpropaganda dann aber zunehmend anders verwendet im Sinne von "Dissonanz, Atonalität, unisono, komplizierte Form ... auf der einen, Volksmusik, Tradition, kulturelles Erbe, Melodienreichtum, klare Form, Klangfülle, Polyphonie, Gesang auf der anderen Seite" (Karen Kopp: Form und Gehalt der Symphonien des Dmitrij Schostakowitsch, S. 41).

Interessant ist, dass damals in der Sowjetunion Avantgarde und Traditionsbruch als Kennzeichen des "Bürgerlichen" galten, Tradition und Patriotismus dagegen als sozialistische Werte. Würde auf heute übertragen bedeuten, dass die AfD kulturpolitisch links der MLPD steht .... :004:
 
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Lieber Ambros,

in aller Kürze, ganz unwissenschaftlich und ohne Quellen: Schostakowitschs Erste ist ein Wunderwerk an Reife - in Hinblick auf sein künftiges Schaffen, denn sie nimmt Charakteristika seiner späteren Symphonik (vor allem die Finalproblematik) vorweg.

Als Hörer muß man sich von den Wesensmerkmalen deutsch-österreichischer Muster befreien, die die klassisch-romantische Symphonik geprägt haben (gewisse Aspekte bei Mendelssohn, Schubert und Bruckner mal außer Acht gelassen), vor allem vom Ideal der Entwicklungslogik, d.h. einer die ganze Symphonie durchziehenden Durchführungstechnik bzw. motivisch-thematischen Arbeit.

Nicht daß es diese in der osteuropäischen Symphonik nicht gäbe. Aber im Osten hat sich eine stärkere Orientierung an großen, in sich geschlossenen Formblöcken herausgebildet (Exposition, Reprise, A-B-A'-Liedform, Rondo und Couplet etc.), zu denen eine eher liedhafte bzw. ariose Melodik paßt. Reine Durchführungsabschnitte sind oft nur Episoden zur Überbrückung zwischen den großen Formteilen. In der Durchführung bleiben die Themen oft unverändert und werden nur andersartig umspielt. Das vorherrschende Reihungsprinzip folgt dabei einer eigenen, schwer zu beschreibenden und nicht zu unterschätzenden Logik.

So viel zum richtigen Hören dieser Musik - wenn man nicht (als Westler) dauerhaft irritiert bleiben möchte. Schostakowitsch modernisiert dieses Denken in Formblöcken, indem er es mit dem zu seiner Zeit gerade hochmodernen Montage-Prinzip (mosaikartige Verknüpfung von Formteilen, Ideal: die Diskontinuität, der extreme Gegensatz zur Entwicklungslogik) verbindet. Das ist grandios: die Rekonstruktion der romantischen Symphonie aus dem Geist der Montagetechnik. Dazu leistet sich Schostakowitsch den Luxus, in der Aufeinanderfolge diskontinuierlich wirkender Episoden motivisch-thematisch zu arbeiten.

Zur Ersten: Das Beste ist zweifellos der zweite Satz, ein vor Ideen nur so sprühendes Scherzo mit einem interessanten Formplan: Teil 3 ist die Addition der Teile 1+2, eine in Osteuropa besonders favorisierte Kontrapunkttechnik: das quodlibet-artige Übereinandertürmen von Melodien. Das Klavier wird in dem Satz übrigens nicht als Perkussions-, sondern als den anderen gleichwertiges Melodieinstrument eingesetzt.

Der dritte Satz ist leider zu lang. Ihm hätten ein paar Striche gut getan - was in gewisser Weise auch für das Finale gilt, wo allerdings die Länge, das qualvolle Suchen nach dem Ende, richtig auskomponiert ist. Das Finale nimmt die für spätere Schostakowitsch-Symphonien (ab Nr.5) typische Entwicklung vorweg: Auf den final-typischen Aufschwung folgt ein jäher, katastrophaler Absturz, aus diesem ein unruhiges Tasten und Suchen nach neuer Entfaltungsmöglichkeit des Materials, woraus aber nichts wird - außer der Kapitulation am Schluß, dem Hineinsteuern in in eine kurze, wie angeklebt wirkende "freudige" Coda. Das Finalproblem der Unmöglichkeit affirmativer Abschlüsse hat Schostakowitsch von Mahler geerbt.

Herzliche Neujahrsgrüße
Gomez

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Hach, danke dir für diesen super Beitrag!
 

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