Auswendigspielen im absoluten Anfängerunterricht

Ellizza

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Grundsätzlich soll der Anfängerunterricht 2 Dinge leisten:

1) Tonhöhen, ihre Gestaltung/Rhythmik im Gefüge einer Melodie/Thema und deren, komplex mit weiteren parallelen Stimmen und begleitenden Harmonien, Umsetzung in ein Musikstück verinnerlichen

2) Beherrschung des Instruments und der Notation der Musik

1) kann man ganz frei von irgendwelchen Notationen mit einfachen Instrumenten (Orff) einführen

Aber 2) für komplexere Instrumente erfordert die Notation, will man unabhängig von einem Einpauker sein bzw. überhaupt Musikliteratur selbst spielen.

Genau wie das Lesen von z. B. großen Romanen aus der Literaturgeschichte ist das Lesen und Umsetzen des Gelesenen essentiell.

Wer in der Schule Lesen lernen will, muss dies Üben. Das Auswendiglernen von z.B.Gedichten hat nichts mit dem Lesenlernen zu tun, sondern ist nur eine weitere Möglichkeit, das Gelesene weiter zu verwerten. Deswegen hat jeder Lehrer in der Schule darauf zu achten, dass das analytische Lesenlernen nicht durch vorzeitiges Auswendiglernen des zu Lesenden gestört wird. Beispiel aus der Familie, in der 2.Klasse sagt die Grundschullehrerin meiner fassungslosen Mutter "Ihr Sohn kann nicht lesen, zeigen Sie mal mitten im Text auf einen Satz, anstatt von Textbeginn ihn lesen zu lassen". Entsetzt überprüfte meine Mutter es, da hatte ihr Söhnchen mit Supergedächtnis doch sofort beim ersten Vorgelesenbekommen eines Textes sich flugs diesen gemerkt (und nebenbei auch die Lehrerin lange getäuscht). Absofort hallte das Haus wider von "Nispuk kann nicht lesen, (er) will es aber lernen", so dass wir Geschwister es auch einprägsamst fürs Leben behielten.

Nun auf Klavierspielen bezogen, es ist ok zum Kennenlernen der Töne und kleiner Melodien samt einfacher Begleitung dies ohne Notation zu tun. Aber zum eigentlichen Beherrschen des Instrumentes gehört auch das Lesen und die Verknüpfung des Gelesenen zur Musik und zu der sie umsetzenden Motorik simultan. Durch zu frühes Auswendiglernen stört man den komplexen Lernprozesses. Wenn das zu lernende Stück bewusst vom Blatt (nicht prima vista) gekonnt gespielt werden kann, darf es auch auswendig gespielt werden. Aber das Auswendigspielen hat nichts mit Erlernen der Beherrschung des Instrumentes als Umsetzung von notierter Musikliteratur zu tun. Clara Schuhmann z. B. hat erst nachträglich auswendig zu konzertieren begonnen, als es en vogue wurde (und lästige Umblätterei ersparte).

Wenn viele ihre Stücke nebenbei sozusagen en passant auch auswendig können, sollten sie trotzdem das Stück auch bewusst im Vom-Blatt-Spielen beherrschen.

So dies ist meine Sicht. Was denkt ihr, oder habt ihr noch andere Aspekte in Bezug zum Auswendiglernen zu besprechen?
 
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Das kommt mir sehr bekannt vor. Wenn unsere Mutter mit mir Lesen lernen wollte, dann lernte ich es dabei auswendig. In der Schule flog es auf, wenn ich erst bei einem bestimmten Absatz beginnen sollte. Aber keine Angst, "Krieg und Frieden" habe ich später dennoch lesen können und davor schon andere Romane verschlungen.
Und anders sehe ich das bei Musik auch nicht, eher betrachte ich Musik wie Gedichte. Vor allem wenn mit Text verbunden, muss der zuerst auswendig sitzen, vorher brauche ich erst gar nicht anzufangen, den mitsingen zu wollen.
Und kleine Kinder erschließen sich doch wohl Musik, in dem sie einfach mit dem Singen beginnen. Dass man bei Gitarre zur Not auch ohne Noten auskommt und beim Klavier praktisch eher kaum, hat eigentlich nichts damit zu tun, dass man etwas nicht innerhalb von wenigen Tagen auswendig lernen kann, um das Notenblatt beiseite zu legen. Nur es hat halt vom Umfang Grenzen.
 
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Beides hat seinen Wert. Heute habe ich den Eindruck, daß Auswendiglernen verfemt wird.
Werden in Schulen noch Gedichte auswendig gelernt? Ich finde es schön, wenn man das kann, diese Gedichte nimmt man durch sein ganzes Leben mit.
Ich kannte eine sehr alte Dame, die nicht mehr sprach, am Leben nicht mehr teilnahm. Als ihre Tochter ihr ein Goethegedicht vorlas, begann sie, es leise mitzusprechen...
Zum Thema:
Musik ist zunächst ein Erlebnis, das über das Ohr geht und nur darüber. Viele Kinder können in die Musik viel besser eintauchen, wenn sie durch nichts und gar nichts und schon gar nicht durch Punkte auf Papier davon abgelenkt werden. Jede Art von Schrift ist nur ein Hilfsmittel, daß alte Botschaften nicht verloren gehen. Die eigentliche Musik will nur klingen.
Aber auch ich bin der Meinung, daß eben diese Hilfsmittel gelernt werden müssen.
Begabungen dazu sind sehr unterschiedlich, es gibt Vomblattspieler und Auswendigspieler. Jeder sollte sich im Bereich des Anderen fleissig tummeln.
Da ist die Lehrkraft gefragt, das Ohr zu schulen und das Blattspiel ebenso. In der Mischung der Gewürze liegt das Geheimnis:001:
 
Meine Tochter (8 Jahre) hat jetzt seit knapp einem Jahr Klavierunterricht. Beim anfänglichen Lesen des Notentextes eines neuen Stückes ist sie so konzentriert, dass sie bei den kleinen Anfängerstücken (bspw Fanfaren-Menuett) bereits nach zwei bis drei Durchgängen nur noch auswendig spielt und nicht mehr auf die Noten schaut.
Beneidenswert - Ich kann mir Notentexte bis heute nur bedingt merken :konfus: und spiele - leider - überwiegend vom Blatt. Aber ich arbeite daran... ;-)
 
Arbeite nicht zu viel daran, Du könntest Dich ärgern, wenn das Vergessen sein Unwesen treibt. Also, was ich eine unbestimmte Zeit nicht übte, da muss ich dann auch wieder einen Blick aufs Blatt werfen, nur es ist bisher viel schneller wieder da. So, dass ich etwas nach zwei Monaten noch einfach aus dem Gedächtnis spielen könnte, wenn ich es zwischenzeitlich nicht einmal übte, ist es bisher leider nicht immer. Da mag es aber auch Unterschiede geben.
 
Wenn viele ihre Stücke nebenbei sozusagen en passant auch auswendig können, sollten sie trotzdem das Stück auch bewusst im Vom-Blatt-Spielen beherrschen.

Im Originaltempo bewusst vom Blatt spielen konnte ich nie und seitdem ich es nicht mehr versuche, ist das Leben viel einfacher.

Klar ist es gut, wenn man es kann, aber verzettelt man sich da nicht auf einem Nebenkriegsschauplatz? Zwingt man dem Schüler nicht unnötigen Frust auf? Bei einfacheren Stückchen, die ich prima vista spielen kann, tue ich das auch nicht BEWUSST.
 
Beides ist nützlich, kann sich beim Verwenden identischen Notenmaterials aber gehörig ins Gehege kommen.
Stücke, die ich "vom Blatt lernen" will, weigern sich anschließend vehement dagegen, auswendig gelernt zu werden.
Gibt dafür sicher eine Hirnbla-Erklärung.
 
Genau wie das Lesen von z. B. großen Romanen aus der Literaturgeschichte ist das Lesen und Umsetzen des Gelesenen essentiell.
Das stimmt sicherlich aber ich vergleiche Musik lieber mit Sprache als mit Lesen. Das Lesen ist nur ein kleiner Teil und nicht mal notwendig, um eine Sprache zu lernen und zu beherrschen.
Notation ist für mich ein sehr wichtiges und effektives Kommunikations- und Speichermittel, genau so wie die Schrift, mehr aber auch nicht.
 
Gibt dafür sicher eine Hirnbla-Erklärung.
Habe mir gerade eine überlegt. Nach allem was ich hier so gelesen habe, könnte ich mir einen Unterschied so vorstellen:

Vom Blatt spielen, gleich vorausschauendes Lesen und Spielen.
Auswendiglernen, gleich rückwirkendes Üben durch Wiederholung.

Einen Vergleich zum Lesen von Gedichten kann ich mir nicht vorstellen, da das Lesen immer dem Auswendiglernen vorausgeht, es sei denn, es beruht auf Hören. Nachsprechen ist immer dabei, auch wenn nur innerlich oder nicht völlig bewusst erfolgt.
Beim Spielen könnte ich mir aber vorstellen, dass das Hirn voranschreiten möchte, wie beim vom Blatt spielen, falls bereits daran gewöhnt, obwohl es wiederholen sollte, um etwas auswendig zu lernen.

Das war jetzt sicherlich sehr laienhaft, möglicherweise sogar reichlich daneben.
 
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Das stimmt sicherlich aber ich vergleiche Musik lieber mit Sprache als mit Lesen.
Der Vergleich war nicht Musik und Lesen, sondern Lesen von notierter Sprache im Vergleich zu Lesen von notierter Musik.

Und mir ging es um den Punkt, dass man das begreifende Lesen von Musiknotationen eben richtig erlernen muss, damit es flüssig geht. Vor allem mit der Hand in Hand gehenden Umsetzung des Begriffenen in Aktionen auf dem Instrument, die dann erst die Musik hörbar macht. Die ganz perfekten hören ja innerlich beim Lesen von Partituren die Musik. Vom Blatt singen ist ja auch eine Kunstfertigkeit, die viele Aspekte beim Lesen von Musiknotationen erfordern.

Klar kann man auch ohne Noten Musik machen, aber jemand muss sie einem vormachen oder man muss halt selbst aus den Bausteinen die man erworben hat, Musik gestalten ("komponieren").

Es sollte allerdings berücksichtigt werden, dass die hochentwickelte europäische Musik erst durch ihre Notationsmöglichkeit dazu wurde. Genauso wie anspruchsvolle Literatur mit ihrer schriftlichen Fixierung sich entwickeln konnte.
(Gilt auch für andere Gebiete, etwa die Mathematik, die Chemie)

Schrift bzw. Notation ist keinesfalls bloß Handwerkszeug.
 
Vom Blatt spielen, gleich vorausschauendes Lesen und Spielen.
Auswendiglernen, gleich rückwirkendes Üben durch Wiederholung.

Nach intensiven Übe-Stunden stellt sich bei mir das 'Auswendig' von selbst ein. Und vom Blatt spielen kann ich bislang nur insoweit, daß ich die einzelnen Noten (vorausschauend) erfasse aber noch keine zusammengefaßten Cluster von Noten (Chunks?), daran übe ich noch.

Allerdings, wenn ich ein Stück längere Zeit (z.B. ein paar Wochen) nicht mehr gespielt habe, braucht's Anlauf-Übung, bis ich es wieder ohne Noten vor den Augen spielen kann.
 

Mir fällt gerade auf, dass ich in meinen Unterrichtseinheiten viel seltener Noten geschrieben habe / aufschreiben sollte als es vergleichsweise das Scheiben im Fremdsprachenunterricht war. Ist das Notenschreiben für das Verständnis der Notation weniger wichtig als das Sprechen und Schreiben bei einer Fremdsprache?
 
Ist das Notenschreiben für das Verständnis der Notation weniger wichtig als das Sprechen und Schreiben bei einer Fremdsprache?
Ich finde das genau so wichtig und ich musste das am Anfang auch viel machen. Aber heute scheint das kaum noch gefordert zu werden, dabei ist es der einfachste und effizienteste Weg um Noten zu lernen.
 
Ich weiß nicht, ob es Dir etwas bringen könnte, doch ich schaue mir ab und an ganz gerne bei YT diese Notenblätter mit mitlaufenden Zeigern an. Davon lernt man nicht Noten besser lesen, doch ab und an bleibt ja doch ein kleinwenig mit der Zeit hängen. Bei mir hat es zumindest ganz nebenbei so viel gebracht, dass ich den einen oder anderen Rhythmus schneller erkenne. Als Suchbegriffe hatte ich gerade die unten stehenden bei YT und da war die Auswahl dann reichlich, so dass es nur ein Beispiel sein soll.

Classic Masterpieces Piano Sheet Music
Classic Piano Sheet Music


View: https://www.youtube.com/watch?v=LYvnc339Xvw
 
Um auf die Ausgangsfrage zurück zu kommen:
Im Anfängerunterricht (besonders bei Kindern) ist Auswendigspiel nicht uneingeschränkt positiv, oft ist es das primitive motorische Gedächtnis, welches
völlig unreflektiert und verständnislos die Noten nachplappert und damit jeden gestalterischen Willen erschwert!
Die Gegenposition ist als extreme Anforderung weder realistisch noch wirklich erforderlich: spiele nur, was Du wirklich verstehst! Das schränkt das Repertoire erheblich ein!
 
Schrift bzw. Notation ist keinesfalls bloß Handwerkszeug.
Im folgenden Artikel wird Schreiben und das Reflektieren über das Geschriebene als Beeinflussung des Denkens beschrieben, hört sich simpel an, aber das ist der Grund des permanent erweiterbaren Denkens, das Strukturen entwickelt, die wiederum zu noch mehr Denkräumen führen. Und das gute daran ist, dass durch strukturiertes Niederschreiben sich auf wesentliches konzentriert wird( und andere teilhaben und sich einbringen können).
Die Analogie zur Musiknotation ist offensichtlich..
https://www.zeit.de/zeit-wissen/2017/06/schrift-schreiben-denken-sprache

Edit: zuerst war Seite 2 des Artikels verlinkt, der mehr das manuelle Schreiben beleuchtet, das tablet spinnt manchmal...:blöd:
 
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Der Vergleich war nicht Musik und Lesen, sondern Lesen von notierter Sprache im Vergleich zu Lesen von notierter Musik.
Nun ja, ich kann mich nicht mehr daran erinnern, in welcher Altersstufe wir im Musikunterricht die ersten Notenschlüssel und Noten mit und ohne Fähnchen in ein Notenheft malten. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob da mehr Wert auf Schönschrift als auf Verständnis gelegt wurde. Ein Zusammenhang zwischen dem was ich ins Heft schrieb und dem Gehörten bildete sich bei mir nicht. Irgendetwas muss da wohl falsch gelaufen sein.

Mag aber sein, dass dies bei gleichaltrigen Mitschülern, die noch zusätzlich Stunden nahmen um ein Instrument spielen zu lernen, ganz anders aussah. Erstaunlicherweise blieb aber bei mir noch so viel von der Notation hängen, dass diese lediglich aufgefrischt und ergänzt werden musste. Für eine nicht wirklich verstandene und über fünf Jahrzehnte nicht angewendete Sprache doch ziemlich gut, würde ich meinen.
Wie gut wäre es wohl gewesen, wenn die Vermittlung ausreichend gewesen wäre, um diese Sprache auch noch anwenden zu können. Etwas weniger Theorie und etwas mehr praktische Anwendung könnte bei einigen Kindern mehr bewirken. Aber ich bin kein KL, der wissen könnte, wie unterschiedlich einzelne Kinder da herangeführt werden könnten.

Oder einfacher, ein Vergleich zum Lesen von Musik und Sprache ist vielleicht etwas weniger wichtig als herauszufinden, wie unterschiedlich Kinder was aufnehmen und verarbeiten.
 

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