Das Schach Problem

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Alter Tastendrücker

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31. Aug. 2018
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Es gab in den letzten Jahrzehnten im Schach eine bemerkenswerte Entwicklung, die uns am Klavier in nicht zu ferner Zukunft auch bevorsteht, aber wahrscheinlich ernstere Konsequenzen haben wird!
Als die ersten Schachcomputer kamen, waren sie eine Art Spielzeug, dann kam die nächste Generation mit verschiedenen Spielstärken, gegen die ein besserer Amateur durchaus verlieren konnte. Noch immer war aber zu hören, die Kreativität und Erfahrung wirklicher Spitzenspieler wird der Maschine immer überlegen sein, aber er darf keine Fehler machen. Das Schachspiel änderte sich - nicht nur, aber auch - unter dem Einfluss der Maschine, Fehler vermeiden wurde essentiell, der Mensch wurde maschinenähnlicher.
Die letzte Phase ist jetzt erreicht, die Maschine besiegt jeden Menschen, das Spiel Mensch gegen Maschine ist verloren und interessiert keinen mehr! Menschen spielen gegen Menschen und Maschinen unter sich!
Das ist ein Happyend!
Beim Klavierspiel sind wir aktuell in einer früheren Phase dieser Entwicklung, aber es ist schon eine sehr bedenkliche Entwicklung sichtbar, die beispielsweise an Claudio Colombo festgemacht werden kann. Dieser 'Pianist' verkauft bei Amazon viele Aufnahmen, die erstaunlich perfekt, aber offensichtlich nichtmenschlichen Ursprungs sind. Das wäre kein Problem, wenn sich diese leblosen Aufnahmen nicht verkaufen würden und in den Kommentaren erstaunlich gut bewertet würden (nicht immer, aber immer öfter)!
Selbst diese schlechten aber perfekten Fakes werden also von einem Teil des Publikums akzeptiert.
Damit sind also völlig geistlose unartikulierte, ungestaltete Kunstprodukte als Interpretationen großer und weniger großer Musik akzeptiert.
Es ist nicht besonders kühn anzunehmen, dass diese Fakes besser werden und der Wettbewerb um Perfektion und auf dem Computer erzeugte 'Musikalität' über kurz oder lang verloren wird.
Dann stellt sich die interessante Frage, ist op. 111 gespielt von einem durch X programmierten Programm (eventuell, dass es menschlicher wirkt, mit kleinen eingebauten Unebenheiten) nicht wertvoller und besser als die Bemühungen eines menschlichen Pianisten, der mit den Unzulänglichkeiten eines realen Klaviers und seiner begrenzten Körperlichkeit ringt?
Ich wehre mich gegen eine derartige Einstellung, aber wie lange bleibt diese Einstellung 'normal'?
Die Anpassung speziell der professionellen Pianisten an maschinengleiche Perfektion und Wiederholbarkeit ist schon weit gediehen!
Und damit meine ich nicht die künstlerische Perfektion eines Michelangeli oder Gould!
Wenn sich die Rezeptionsgewohnheiten des Publikums so weiterentwickeln, wie das in Teilen schon zu beobachten ist, wird das zum Problem!
 
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Dazu passt auch, dass immer mehr Hörer den entsetzlichen zerteilen Klang der - auch besseren - E-Klaviere akzeptieren!
 
Und es liegt meines Erachtens in der Verantwortung der aktuell heranreifenden Pianistengeneration diesem Problem zu begegnen, indem sie Aspekte der Musik hervorhebt, welche diese distinguiert menschlich macht.

Das ist meines Erachtens übrigens ganz allgemein eine große Verantwortung für die aktuell heranwachsenden Generationen. Unsere Welt wird zunehmend technisiert und diese Technisierung macht auch vor ureigen menschlichen Domänen wie Kunst, Emotionen, Kreativität etc. keinen Halt. Es liegt also in unserer Verantwortung, die Aspekte, welche uns als menschlich definieren und ausmachen, zu pflegen und von "Maschinellem" abzugrenzen.
 
@Tastatula
Nicht singen findet man bei Computermusik, Midimusikfiles z.B. atmen nicht, kennen keine Agogik, kennen nicht die Lust der Betonung bei raffinierten Rhythmen, sondern produzieren nur Töne in unterschiedlichen Frequenzen.

Genau das ändert sich aktuell! Es ist mit der nötigen Geduld möglich ein Midifile Ton für Ton zu gestalten. Ist das Ergebnis, welches wir, wenn die Technik voranschreitet nicht mehr von der Leistung eines gut geübt habenden Pianisten unterscheiden können nicht eine gültige Interpretation des Werks? Und wenn im nächsten Schritt der Computer nach vorgegebenen Regeln selbst eine Interpretation schafft (Modell Glenn Gould' vorherrschend non legsto oder Modell Barenboim mit fünf falschen Noten), ist das dann noch 'gültig' ??!
 
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Ja und?
Ein Glenn Gould hat im Studio auch alles was damals an Technik bereit stand ausgenutzt um eine perfekte Aufnahme hinzubekommen, einzelne Takte bis zu 200 mal aufgenommen und den besten Take rausgesucht. Es wird schon immer gemastert, geschnippelt, gemixet....
Ich sehe da keinen Unterschied.

Ach ja, was Claudio selbst im gleichen Forum dazu schreibt:
on my website I wrote precisely "All the tracks performed by Claudio Colombo, on Yamaha digital pianos". It is very clear. To perform does not mean recording live. All people native speaker of English I know confirmed me that, when I did launch my website.

Here I put my live recordings: http://www.claudiocolombo.net/acustiche.htm. And in that page I wrote clearly: "Live" audio recordings by Claudio Colombo, 1985-1989, and 2008. If you want, I can upload some of this files on "Piano Society".

Otherwise, the "speed up" method is used only in some cases, and not because lacks of my technical skills, but because I prefer working on a "projection", from a musical perspective, to editing and/or cutting, and because the keyboard of a digital piano does have mechanical limits. I'd rather recording on my Bechstein acoustic piano, but I don't have a recording studio.

I am a teacher, not a concert performer (my last public recital was in 1988), and I am not searching for personal glory.
 
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das Besondere beim live spielen ist der Odem. Für diejenigen, die den Begriff zu pathetisch finden - ich finde, er trifft genau, was ich meine -, es gibt einen Fluss in der Musik, der nur entsteht, wenn man sie spielt. Analysiert man jeden Ton, bastelt man ein crescendo künstlich zurecht, entwickelt es keinen analogen Schaum vor dem Mund. Die Aura der Musik kann nicht erscheinen. Darum gehen Menschen in´s Konzert.
Wenn ich Aufnahmen habe, hasse ich es, wenn Stücke auseinander genommen werden. Ich versuche, möglichst am Stück zu spielen und evtl. gibt es mehrere Versionen, manchmal schneidet man, aber bitte möglichst selten.
Ich persönlich kann mit Glenn Goulds Interpretationen bei einigen Werken überhaupt nichts anfangen, die Musik klingt für mich oft hektisch, ungelebt.
Wobei ich seine Genialität nicht in Abrede stellen will.
 
uff, gerade C.C. gehört.
Da fehlen mir die Worte...und die Musik erst recht...
 
Ich fürchte, dass die Erziehungsaufgaben, dir da nötig wären (@alibiphysiker hat ja soo echt!) unsere und die folgenden Musik- und/oder Instrumentallehrergenerationen überfordern!
 

Da kann ich nicht mitreden weil ich nie in Konzerte gehe, aber ich bin ein Fan von Schallplatten und ich nehme gerne den einen oder anderen Kratzer in Kauf da ich der Überzeugung bin, es ist einfach lebendiger.
 
Ein Aufnahme ist eine Aufnahme. Mit einem Konzert - in dem etwas wird und nicht schon ist - hat sie ungefähr so viel gemein wie ein Bergfoto mit einem Gipfelerlebnis.

Mag sein, dass Computer irgendwann Musikaufnahmen gut hinkriegen. Mir wäre das völlig egal. Weil mir auch Aufnahmen mehr oder weniger egal sind. Wem Musik wirklich etwas bedeutet, der geht in's Konzert und will dort miterleben, wie zwischen Künstlern und Publikum etwas Einmaliges und Unwiederbringliches entsteht.

Wer das nicht fühlt, der sollt halt Aufnahmen oder Computer anhören oder Digis spielen. Ist ja auch viel billiger.
 
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Kameras haben längst die analoge Fotographie überholt
Sind aber aus dem Bereich der künstlerischen Fotografie nicht verschwunden. Soll jetzt nur ein Beispiel sein, weil ich gerade die anderen Adressen nicht fand, nur den Beitrag hatte ich mal verlinkt, weil ich die Fotografien so toll fand:

http://www.klonblog.com/grandios-giles-clement-fotografiert-wie-zu-urgrossmutters-zeiten/

Und bei Heise steht in einem Beitrag vom 25.09.2018, "Die Analog-Fotografie ist wieder im Kommen".

https://www.heise.de/newsticker/mel...-Fotografie-ist-wieder-im-Kommen-4172331.html

Viel anders sehe ich es mit digitaler Musik ebenfalls nicht. Gut um diverse Videos zu unterlegen, doch auf der Bühne möchte man wohl lieber Künstler sehen, die spielen können, auch wenn das Instrument ein digitales ist.
 
Ich hab mal eine Zeit lang die Live Übertragungen der Berliner Philharmoniker abonniert , da musste ich halt nicht im Saal sitzen, allerdings sind die Übertragungen immer wieder mit Aussetzern gesegnet, so hab ich sie dann gekündigt. Schade.
 
Wir haben uns bei physischen Dingen schneller und einfacher dran gewöhnt als bei intellektuellen Sachen, dass wir Geräte erschaffen können, die uns überflügeln.

Keiner wundert sich, dass es immer noch Wettkämpfe im Radfahren gibt, obwohl Motorräder 5 mal so schnell sind. Wir haben immer noch Kugelstoß-WMs, obwohl Kanonen die Kugeln 100 mal so weit schießen können. Wir rennen und hüpfen und schwimmen immer noch um die Wette, ohne diese Leistungen auch nur eine Sekunde durch Technik gefährdet zu sehen.

Bei intellektuellen Dingen ist das erst viel später gelungen. Keiner wundert sich zwar, wenn ein Computer viel schneller rechnen kann oder viel mehr Fakten abrufbereit hat - aber auch damit kommen wir noch zurecht - es ist ja nur stupides Rechnen / Nachschlagen.

Aber wehe ein Computer schlägt uns in Schach, Go, Jeopardy oder sonst etwas - schon ist der Sport an sich gefährdet!?
Nein - selbst ein billiges Medion-Notebook schlägt heute mühelos alle Schach-Weltmeister. Ein Highend PC von der Stange spielt schier übermenschlich und würde auch eine Gruppe zusammenarbeitender Schachgroßmeister schlagen. Und dennoch - jeder mit etwas Allgemeinbildung kennt den amtierenden Schach-Weltmeister. Es wird immer noch gespielt, mit immer noch genauso viel Spannung. Das lässt sich keiner durch Maschinen vermiesen - auch daran haben wir uns nun langsam gewöhnt.

Fehlen jetzt noch die künstlerischen Dinge - auch daran werden wir uns gewöhnen. Es ist ein eigenes Ding und schmälert doch nicht die Leistung von Menschen, egal was Maschinen dort erreichen. Ich finde es immer spannend, wenn ein Pianist auf der Bühne spielt - selbst wenn der Computer irgendwann perfekt ein ganzes Orchester nachmachen könnte.

Jedoch - wem Musik wirklich was bedeutet, der findet Musik nicht nur im Konzert oder auf der Bühne, sondern auch in elektronisch generierter Musik oder auf dem Digi oder sonstwo. Wer das nicht fühlt, der muss und darf halt ins Konzert rennen. Solange man Musik-Liebe nicht mit Chauvinisms und Narzismus verwechselt und aus falschen Gründen Musik nur in Konzerten oder auf nicht-elektronischen Instrumenten findet, ist das absolut legitim.

Der elektronische Künster ist auf sein Werk genauso stolz wie ein Komponist, der auf klassischen Instrumenten komponiert - des einen vermeintliches Bergfoto ist des anderen Gipfelerlebnis und umgekehrt.
 
Wenn die Konzertkultur neu erblüht, dann soll mir's Recht sein!
 

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