Offene Quintparallelen am Ende von BWV 564 (2)

Bach und Beethoven dürfen das ja auch! =D Der normale Tonsatzschüler hat da schon größere Probleme, das zu begründen...;)
Erstere haben natürlich nicht ins Kontrapunkt-Lehrbuch geschaut und sich vergewissert, ob sie das so schreiben dürfen. Von letzterem wird hingegen erwartet, gewisse charakteristische Satzweisen der jeweiligen Epochen zu kennen, um dann zugunsten eigener Ideen bewusst ganz individuelle Wege zu gehen. Es geht nun mal nicht darum, ein vorgegebenes Regelwerk abzuarbeiten, sondern ein bestimmtes Gefüge von Konsonanz und Dissonanz, von Anspannung und Entspannung etc. herauszuarbeiten. Zu den frühen Entwicklungsstadien der Mehrstimmigkeit zählt nun mal das Parallelorganum mit Stimmabständen in perfekten Konsonanzen, in der Ars-Antiqua- und Ars-Nova-Zeit entwickelte sich zunehmend das Streben nach eigenständig geführten Stimmen heraus, das im Spätbarock (der Name Bachs ist ja schon gefallen) einen ausgewachsenen Reifegrad erreicht hat. Vor diesem Hintergrund wirkten Parallelen archaisch und stilfremd - wenn aber der Kontext ein solches Phänomen rechtfertigte, konnte man Bach keinerlei Berührungsängste nachsagen; gerade in den großen Passionswerken wird man an bestimmten Stellen fündig. Da aber die Satzübungen des "normalen Tonsatzschülers" den Nachweis einer gewissen Stilkenntnis zum Ziel haben, sollten Sonderfälle auch solche bleiben: Am besten unterlassen oder in einer geeigneten Weise deutlich machen, dass hier eine besondere Abweichung von irgendwelchen "Normen" vorsätzlich praktiziert wird. Dazu gehören auch unkonventionelle Stimmführungen, dissonante Spannungen und dergleichen mit Legitimation durch Besonderheiten in der Textvorlage.
Bereits ab dem späten 19. Jahrhundert gab es bewusste Archaismen und Rückbezüge auf deutlich frühere Epochen, wie auch eine Emanzipation der Dissonanz kein neuzeitliches Phänomen ist, was jeder spätestens nach dem Hören eines Gesualdo-Satzes bestätigen darf...! Hauptmotiv ist demnach die Definition der eigenen stilistischen Orientierung und die Abgrenzung von anderen Epochen mit ihrer spezifischen Satzweise.

LG von Rheinkultur
 
Okay, das stimmt, da gibt es wirklich viele Beispiele. In diesem Fall geht es aber aus folgendem Grund nicht: Wenn man auch die Noten des oberen Systems miteinbezieht, ist der vorletzte Akkorde h - d - f - as (mit c im Bass) und der letzte c es g. Das interpretiere ich als verkürzten kleinen Dominantseptnonenakkord mit Grundton der Tonika im Bass, der sich zur Tonika auflöst. Die kleine Septime f sowie die kleine None as sind nach dieser Interpretation Dissonanzen, die sich nur schrittweise auflösen können. Bei einer Stimmkreuzung würde mindestens eines der folgenden Probleme auftreten: as - es -> die kleine None wird durch einen Sprung "aufgelöst" (falsch), as - c -> die kleine None wird durch einen Sprung "aufgelöst" (falsch), f - g -> die kleine Septime wird nach oben aufgelöst (nur sinnvoll, wenn sich der eigentliche Auflösungston im Bass befindet), f - c -> die kleine Septime wird durch einen Sprung "aufgelöst" (falsch).

Mit dieser Deutung wäre ich jedoch sehr vorsichtig! Wie Diether de la Motte in seiner Harmonielehre ausführlich beschreibt, war der Dominantseptnonakkord zu Bachs Zeiten noch völlig unbekannt und wurde kompositorisch nicht eingesetzt. Einen Akkord als Verkürzung von zu interpretieren, was es damals noch gar nicht gab, stellt einen deskriptiven Anachronismus dar. Stattdessen schlägt der Autor zwei andere Deutungen vor: Entweder handelt es sich um eine Vorhaltsbildung im Dominantseptakkord, oder um einen Mischklang aus s6 und D/57. Damit wird man auch dem subtdominantalen Charakter, den der Akkord in der Barockzeit oft noch hat, stärker gerecht.

Herzliche Grüße

Dein Lisztomanie

P.S.: Daher finde ich die Bezifferung 3-5-7-9 auch nicht richtig, besser wäre 1-3-5-7. Hat man im Barock doch Akkorde großteils noch einfach als Intervallschichtungen und weniger als in großem Zusammenhang stehende "Harmonien" verstanden. Daher muss man auch sagen, das die Regel, im Sextakkord dürfe nur der "Grundton" verdoppelt werden, gerade für Bach falsch ist. Ausführliche Analysen habe gezeigt, dass im Sextakkord alle Töne gleichberechtigt sind. Es werden also genauso häufig "Terz" oder "Quinte" verdoppelt, wobei diese Bezeichnungen irreführend sind, da im Sextakkord sogar bei Haydns kirchenmusikalischen Werken (Theresienmesse etc.) die "Terz" als "Grundton" verstanden wurde; er stellt also keine Umkehrung der Grundstellung, sondern einen eigenständigen Akkord dar! Daher auch nicht 3-5-1, sondern 1-3-6! Wer also einen wirklich stilgetreuen Tonsatz schreiben will, muss auch "Terz" und "Quinte" verdoppeln.
 
Mit dieser Deutung wäre ich jedoch sehr vorsichtig! Wie Diether de la Motte in seiner Harmonielehre ausführlich beschreibt, war der Dominantseptnonakkord zu Bachs Zeiten noch völlig unbekannt und wurde kompositorisch nicht eingesetzt. Einen Akkord als Verkürzung von zu interpretieren, was es damals noch gar nicht gab, stellt einen deskriptiven Anachronismus dar. Stattdessen schlägt der Autor zwei andere Deutungen vor: Entweder handelt es sich um eine Vorhaltsbildung im Dominantseptakkord, oder um einen Mischklang aus s6 und D/57. Damit wird man auch dem subtdominantalen Charakter, den der Akkord in der Barockzeit oft noch hat, stärker gerecht.

Hallo Lisztomanie,

ich muss ganz ehrlich und offen zugeben, dass dein musiktheoretischer Kenntnisstand meinen bei weitem übersteigt. ;-) Wenn der Akkord also Subdominantfunktion hat, dann sind f und as natürlich keine Dissonanzen.
 
Ob der Akkord hier Subdominant-Funktion hat, möchte ich nicht endgültig beurteilen, dazu bedarf es weiterführender Analysen, die ich gerne Rheinkultur etc. überlasse. Wichtig, finde ich nur zu erwähnen, das auf jeden Fall ein bisschen Subdominante in ihm enthalten ist...:D Allgemein ist die deskriptive Analyse von Barockmusik ein wenig problematisch, da hier musiktheoretische Methodiken auf Werke angewandt werden, die erst Jahrhunderte nach der Komposition selbiger entwickelt wurden. Was sich jedoch mit Eindeutigkeit sagen lässt, ist, dass im Generalbasszeitalter Akkorde als Intervallschichtungen interpretiert wurden. Bei Rameau finden sich dann die beiden charakteristischen Dissonanzen "Septime" für die Dominante und "Sixte ajoutée" für die Subdominanten. Da hier beide in der Intervallschichtung - den Begriff "Akkord vermeide ich hier bewusst! - enthalten sind, darf man - zumindest meiner Meinung nach - auf einen Mischklang aus Subdominante und Dominante schließen.

Herzliche Grüße

Dein Lisztomanie

P.S.: Danke für das Kompliment! :D Ich bin aber auch gerade erst dabei,mir dieses hochinteressante Themengebiet Stück für Stück zu erschließen.
 
Wie Diether de la Motte in seiner Harmonielehre ausführlich beschreibt, war der Dominantseptnonakkord zu Bachs Zeiten noch völlig unbekannt und wurde kompositorisch nicht eingesetzt. Einen Akkord als Verkürzung von zu interpretieren, was es damals noch gar nicht gab, stellt einen deskriptiven Anachronismus dar.
Davon bin ich nicht überzeugt:

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http://imslp.eu/files/imglnks/euimg...hNBAI,5meinliebsterjesusistverlorenBWV154.pdf
 
Danke für das interessante Beispiel. Hier ist die "alte Perücke" eindeutig ihrer Zeit voraus. Grundsätzlich ist es aber sicher nicht falsch zu sagen, dass der verkürzte Septnonenakkord wohl zu dieser Zeit als Septakkord der VII. Stufe gedeutet wurde.
 

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